Abriss und Neubau eines grenzständigen Wohnhauses

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In seiner Entscheidung vom 3. Juni 2020 (Az. 3 B 2322/19) hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof über gleich zwei wichtige baurechtliche Fragestellungen entschieden.

So setzte sich der Senat zum einen mit verfassungsrechtlichen Bedenken an der Neuregelung zu Abstandsflächen in § 6 Abs. 12 Nr. 4 Hessische Bauordnung (HBO) auseinander. Des Weiteren hatte er über die Frage der Bindungswirkung einer nachbarrechtlichen Verzichtserklärung zu entscheiden.

Die Entscheidung betrifft einen Ersatzneubau eines Wohnhauses auf der Grundstücksgrenze.

Der Beigeladene (Bauherr) beabsichtigte, das grenzständige Wohnhaus abzureißen und am gleichen Standort einen Neubau in gleicher Größe zu errichten. Die Nachbarin erteilte auf der Kopie einer südöstlichen Ansicht des geplanten Neubaus ihr Einverständnis zu dem geplanten Vorhaben. Die Erklärung hatte folgenden Wortlaut:

„Als Eigentümer des Flurstückes Nr. E in der Gemarkung F, Flur … stimme ich dem gepl. Bauvorhaben meines Nachbarn an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu, bei dem das neue Gebäude dem Standort und der Größe des vorherigen Gebäudes entspricht.“

Auf dieser Grundlage erteilte die zuständige Behörde die beantragte Baugenehmigung im Jahr 2016. Nachdem der Rohbau in Abweichung von der erteilten Baugenehmigung vergrößert ausgeführt worden war, verhängte die Bauaufsichtsbehörde im Jahr 2017 einen Baustopp, der bestandskräftig wurde.

Im Mai 2019 erging sodann eine weitere Baugenehmigung. Das hiernach genehmigte neue Gebäude weist eine um 2 m² vergrößerte Grundfläche gegenüber dem Abrissgebäude und eine höhere Ausführung von etwa 70 cm auf.

Gegen diese Baugenehmigung erhob die Nachbarin Drittwiderspruch mit den Anträgen, die Baugenehmigung nebst Abweichungsbescheid aufzuheben sowie bauaufsichtsbehördlich gegen das Bauvorhaben wegen Verletzung des Bauordnungsrechts einzuschreiten. Die zuständige Behörde lehnte die Anträge ab.

Dagegen erhob die Nachbarin Klage beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (Az. 8 L 2788/19.F) und beantragte zugleich deren aufschiebende Wirkung sowie hilfsweise im Wege der Anordnung, gegenüber dem Beigeladenen eine sofort vollziehbare Baueinstellungsverfügung zu erlassen. Das VG Frankfurt lehnte die Anträge mit Beschluss vom 26.09.2019 ab.

Auch die hiergegen erhobene Beschwerde beim Hessischen VGH hatte keinen Erfolg.

 

Nachbarrechtliche Verzichtserklärung

Zur Begründung führte der Senat aus, das VG Frankfurt sei zurecht davon ausgegangen, die Einverständniserklärung der Nachbarin auf der Kopie der Ansicht des geplanten Neubaus im Jahr 2016 habe zu einem Verzicht auf Abwehrrechte im gegenständlichen Verfahren geführt. Aus diesem Grund seien die Anträge bereits unzulässig.

Die nachbarrechtliche Verzichtserklärung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, die gegenüber der Bauaufsichtsbehörde abgegeben wird. Mit ihr wird auf Abwehrrechte gegenüber einem konkreten Bauvorhaben verzichtet.

In der Regel entfällt die Zustimmung des Nachbarn, wenn Planänderungen vorgenommen werden oder ein neuer Bauantrag gestellt wird. Im hiesigen Fall entschieden VG und VGH jedoch anders.

Bei der Ermittlung der Bindungswirkung sei grundsätzlich vom Wortlaut der Erklärung auszugehen und der diesem zu entnehmende objektiv erklärte Wille des Nachbarn zu berücksichtigen. Von Belang seien jedoch auch der mit der Verzichtserklärung verfolgte Zweck, die Interessenlage der Beteiligten und die sonstigen Begleitumstände, die den Sinngehalt der Erklärung erhellen können. Maßgeblich sei dabei der Empfängerhorizont, nämlich wie die Bauaufsichtsbehörde die Erklärung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen durfte (vgl. hierzu auch Hess. VGH, Beschluss vom 24.11.2016 - 3 B 2515/16 -, juris Rdnr. 6).

Die Nachbarin hatte die Einverständniserklärung zwar im vorausgehenden Baugenehmigungsverfahren abgegeben. Die Erklärung beziehe sich jedoch auch auf das vorliegende Baugenehmigungsverfahren. Denn das genehmigte Bauvorhaben habe fast die gleiche Firsthöhe sowie die gleiche Traufhöhe. Die Grundfläche sei um 2 m² vergrößert. Es sei mithin nach der Interessenlage der Beteiligten und den sonstigen Umständen, die zur Nachbarschaftszustimmung geführt hätten, von der Verzichtserklärung umfasst, da die Maße des ursprünglichen Gebäudes nur ganz unwesentlich überschritten worden seien. Wirksam angefochten habe sie die Verzichtserklärung nicht.

Im Ergebnis fehlte es also an einem nachbarrechtlichen Abwehrrecht, sodass die Anträge bereits unzulässig waren.

 

Abstandsflächenregelung nach § 6 Abs. 12 Nr. 4 Hessische Bauordnung (HBO) 2018

Der VGH erkannte auch keinen Anspruch auf ein bauaufsichtsrechtliches Einschreiten.

Das Bauvorhaben liege im unbeplanten Innenbereich und füge sich i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 1 Baugesetzbuch (BauGB) in die nähere Umgebung ein. In dieser sei jeweils prägende Bebauung an beiden Grundstücksgrenzen vorhanden. Auch das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber der Nachbarin sah der Senat als nicht verletzt an.

Der Senat teilte die von der Nachbarin geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken an § 6 Abs. 12 Satz 1 Nr. 4 HBO 2018 nicht. Dieser gestattet die Neuerrichtung eines gleichartigen Gebäudes an gleicher Stelle bei rechtmäßig errichteten Gebäuden, die die erforderliche Tiefe der Abstandsfläche gegenüber Nachbargrenzen nicht einhalten.

Grundsätzlich wird im Rahmen des Bestandsschutzes ein Gebäude (nur) im Umfang seines vorhandenen baulichen Bestandes und seiner Funktion geschützt (BVerwG, Urteil vom 25.11.1970 - 4 C 119/68 -, juris). Mit der Beseitigung des Gebäudes erlischt grundsätzlich dieser Bestandsschutz (Hess. VGH, Beschluss vom 15.05.2018 - 3 A 395/15 -, juris Rdnr. 37 für ein im Außenbereich gelegenes Grundstück) mit der Folge, dass bei dem Neubau ein Abweichen vom Abstandsflächenrecht ausscheidet.

Diesen Grundsatz durchbricht § 6 Abs. 12 Satz 1 Nr. 4 HBO 2018 nach Auffassung des Senats in nicht zu beanstandender Weise.

Zwar liege wegen der Anknüpfung an die Errichtung des Bestandsgebäudes eine „unechte“ Rückwirkung vor. Die Regelung sei aber verfassungsrechtlich unbedenklich, da es sich – wie bei anderen Vorschriften des Abstandsflächenrechts – um eine sachgerechte und verhältnismäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums handele.

 

Fazit:

Mit einer nachbarrechtlichen Verzichtserklärung wird auf Abwehrrechte verzichtet. Die Bindungswirkung kann sich auch auf ein zukünftiges Baugenehmigungsverfahren erstrecken. Bei der Ermittlung der Bindungswirkung ist grundsätzlich vom Wortlaut der Erklärung auszugehen und der diesem zu entnehmende objektiv erklärte Wille des Nachbarn zu berücksichtigen.

Die Neureglung in § 6 Abs. 12 Satz 1 Nr. 4 HBO ermöglicht die Neuerrichtung eines bestandsgeschützten Gebäudes, welches die Abstandsflächen nicht einhält. Diese Regelung begegnet nach Auffassung des Hessischen VGH im Rahmen einer summarischen Prüfung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.


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