Muss Berufserfahrung einer Lehrkraft aus gleichwertigen Vordienstzeiten voll anerkannt werden?

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Muss einschlägige Erfahrung einer Lehrkraft aus Vordienstzeiten in einem anderen Staat der EU durch den öffentlichen Dienst in Deutschland bei der Stufenzuordnung (vgl. § 16 Abs. 2 TV-L) vollständig anerkannt werden? 

Mit dieser Frage hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 23.4.2020 (Az.: C – 710/18, juris) beschäftigt. Der EuGH hat dabei entschieden, dass die Regelung in § 16 Abs. 2 TV-L gegen die Vorschriften der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU gem. Art. 45 Abs. 1 AEUV verstoße.

Sachverhalt

Zu Grunde lag die Klage einer Lehrerin, die beim Land Niedersachsen angestellt war und zuvor 17 Jahre in Frankreich unterrichtet hatte. Dieser wurde bei ihrer Einstellung in Niedersachsen entsprechend der tariflichen Vorgaben in § 16 Abs. 2 TV-L lediglich Berufserfahrung von drei Jahren anerkannt. 

Begründet wurde dies damit, dass eine vollständige Anrechnung nach der Tarifvorschrift nur bei einschlägiger Berufserfahrung zum selben Arbeitgeber (also hier dem Land Niedersachsen) möglich wäre. Bei anderen Arbeitgebern wäre demnach maximal eine Anrechnung von drei Jahren denkbar.

Klageverfahren

Dagegen klagte die Lehrerin vor dem ArbG und rügte insbesondere eine sachlich nicht gerechtfertigt der Ungleichbehandlung. Weiterhin verstoße die Vorschrift und das Vorgehen des Arbeitgebers gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. 

Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Das Landesarbeitsgericht wiederum entsprach der vom Land Niedersachsen eingelegten Berufung und hob das erstinstanzliche Urteil auf. Auf die Revision der Klägerin hat das Bundesarbeitsgericht den Europäischen Gerichtshof im Rahmen der Vorabentscheidung angerufen.

Urteil des EuGH

Die niedersächsischen Behörden hätten die Berufserfahrung der Lehrerin in Frankreich als im wesentlichen gleichwertig anerkannt. Daher könne eine Regelung, die die gleichwertigen Vordienstzeiten im EU-Ausland nicht vollständig berücksichtige, den Wechsel in ein anderes Land weniger attraktiv machen. Damit beeinträchtige die Tarifvorschrift unzulässig die u. a. in Art. 45 Abs. 1 AEUV verankerte EU–Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Die geringere Einstufung in Niedersachsen halte Arbeitnehmer davon ab, von einem Mitgliedstaat in den anderen zu wechseln. Die vom Land Niedersachsen (und im Rahmen der Vorlage auch vom BAG) vorgebrachten etwaigen Rechtfertigungsgründe – etwa die Sicherstellung der Gleichbehandlung von befristet und unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern oder die Bindung der Arbeitnehmer an ihren Arbeitgeber – griffen nicht.

Rechtliche Bewertung

Es handelt sich um eine sehr wichtige Entscheidung für den gesamten öffentlichen Dienst. Dies schon deshalb, da weitgehend identische Bestimmungen neben § 16 TV-L beispielsweise auch in § 16 Abs. 2 TVöD enthalten sind. Die Tarifvorschriften sind nach dem Urteil des EuGH jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig und somit auch grds. von den Arbeitsgerichten bei derartigen Klagen im Hinblick auf die korrekte Stufenzuordnung i. R. d. Entgeltgruppen grds. nicht länger anzuwenden.

In dem nun anstehenden Revisionsverfahren wird das Bundesarbeitsgericht daher ebenfalls nicht länger auf die Differenzierung der Vordienstzeiten beim selben oder anderen Arbeitgeber zurückgreifen können. 

Gleichzeitig ist zu erwarten, dass auch die Tarifparteien die gemeinschaftsrechtswidrigen Bestimmungen zeitnah anpassen müssen. Zumal sich nun weitere (durchaus erhebliche) Ungleichbehandlungen im Hinblick auf gleichwertige Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern innerhalb Deutschlands auftun.

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