Neue Chancen für Arbeitnehmer im Prozess um Überstundenvergütung?

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Das Arbeitsgericht Emden hat in einem Urteil vom 24.09.2020 den Weg für eine interessante Entwicklung für die Chancen von Arbeitnehmern in Überstundenvergütungsprozessen eröffnet.

Worum ging es in der Entscheidung?

Bei der Arbeitgeberin werden die Arbeitszeiten von den Arbeitnehmern selbstständig mithilfe einer Software erfasst. Die Arbeitnehmerin verlangt nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber noch Vergütung für 1001 Stunden und 9 Minuten. Sie legte dazu die entsprechenden Aufstellungen im Prozess vor. Der Arbeitgeber verteidigt sich, wie häufig in derartigen gerichtlichen Verfahren, mit dem Argument, er habe Überstunden weder angeordnet, noch habe er diese zu irgendeinem Zeitpunkt gebilligt oder auch nur geduldet.

Die Arbeitnehmerin habe Vertrauensarbeitszeit gehabt. Die Arbeitszeiten seien daher von der Arbeitgeberin nicht kontrolliert worden, vereinbarungsgemäß hätte die Arbeitnehmerin selbst auf die Einhaltung der Arbeitszeiten achten sollen. Deshalb sei eine Vergütung für zusätzliche Stunden überhaupt nicht geschuldet. Die Arbeitgeberin habe außerdem bei Ausspruch der Kündigung die Anweisung erteilt, dass Überstunden vermieden werden sollten.

 

Wie entscheidet das Arbeitsgericht?

Das Arbeitsgericht Emden spricht der Arbeitnehmerin nahezu sämtliche Überstundenvergütung zu.

             ArbG Emden v. 24.09.2020 - 2 Ca 144/20

 Die Arbeitnehmerin habe durch Vorlage der Stundenaufstellungen hinreichend dargelegt, dass sie zu den angegebenen Zeiten auch gearbeitet habe. Diese Stunden seien durch die Arbeitgeberin veranlasst gewesen, denn sie habe diese jedenfalls geduldet. Bislang habe die Rechtsprechung zwar vorausgesetzt, dass der Arbeitgeber für eine Duldung von Überstunden positive Kenntnis jeder einzelnen geleisteten Arbeitsstunde haben müsse. Dies habe sich jedoch durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14.05.2019 - C-55/18 - Rechtssache "CCOO", geändert. Die Darlegungslast im Überstundenvergütungen werde dadurch modifiziert.

Einer positiven Kenntnis von den Überstunden stehe es danach gleich, wenn der Arbeitgeber sich durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung Kenntnis von den Arbeitszeiten hätte verschaffen können. Demnach reiche es aus, dass die Kenntnisnahme möglich war.

Das Arbeitsgericht begründet dies damit, dass den Arbeitgeber eine Verpflichtung zur Messung und Aufzeichnung von Arbeitszeiten treffe. Der Arbeitgeber müsse aber die Arbeitszeiten auch kontrollieren. Nur dies werde den Vorgaben des europäischen Rechts gerecht. Das innerstaatliche Recht, insbesondere § 618 Abs. 1 BGB, müsse europarechtskonform in diese Richtung ausgelegt werden. Zur Verpflichtung zur Aufzeichnung und Messung von Arbeitszeiten komme unbedingt auch die Kontrolle dieser Arbeitszeiten.

Dies gelte auch für Zeiten vor Bekanntgabe der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, also vor dem 14.05.2019.


Welche Auswirkungen hat diese Entscheidung auf Vergütungsansprüche von Arbeitnehmern?

Wenn man die Auswirkungen dieser Entscheidung beurteilen will, muss man folgende wichtige Punkte unterscheiden:

1. Ausschlussfristen in Arbeitsverträgen

Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden ändert zunächst einmal nichts daran, dass offene Ansprüche des Arbeitnehmers kurzen Ausschlussfristen unterliegen können, wenn in anwendbaren tariflichen Regelungen, Betriebsvereinbarungen oder im individuellen Arbeitsvertrag eine solche Ausschlussfrist vereinbart ist. Im Regelfall ist die Vergütung für geleistete Arbeit monatlich zu zahlen. Auch Überstunden fallen in der Regel darunter. Liegen die geleisteten Überstunden daher längere Zeit zurück, muss geprüft werden, ob diese Ansprüche nicht bereits untergegangen sind. Ausnahmen von diesem Grundsatz bestehen allerdings in manchen Fällen, beispielsweise, wenn ein Überstundensaldo in einer Arbeitszeitaufstellung ausgewiesen wird oder wenn die Überstunden bereits in einer Gehaltsabrechnung abgerechnet wurden, ohne dass Sie ausbezahlt wurden. Die Einzelheiten müssen dann von dem bearbeitenden Anwalt genau geprüft werden, vorzugsweise von einem Fachanwalt für Arbeitsrecht.

2. Duldung von Überstunden

In manchen Fällen können Arbeitnehmer sich nicht darauf berufen, dass Überstunden vergütet werden, wenn sie nicht ausdrücklich vom Arbeitgeber angeordnet worden. Insoweit kommt es darauf an, was arbeitsvertraglich vereinbart wurde.

Die Frage, ob Überstunden auch dann als geduldet angesehen werden können, wenn der Arbeitgeber zwar keine positive Kenntnis von den Überstunden hatte, sich jedoch durch einen Blick in die Arbeitszeiterfassung Kenntnis davon hätte verschaffen können, ist noch nicht von höheren Gerichten entschieden. Auch das Bundesarbeitsgericht hat, soweit dem Autor bekannt, noch keine dahingehende Entscheidung getroffen.

3. Absprachen zur Vergütung für Überstunden

In manchen Fällen können Arbeitnehmer überhaupt Überstunden vergütet verlangen. Dies gilt beispielsweise für bestimmte Führungskräfte und Angestellte mit einer höheren Vergütung.

Was können Arbeitnehmer tun, wenn ihnen Überstunden nicht bezahlt wurden?

Welche Chancen Arbeitnehmer haben, um offene Überstunden noch bezahlt zu bekommen, kann nur im Einzelfall beantwortet werden. Angesichts der Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden könnten sich die Chancen für Arbeitnehmer in einem solchen Prozess aber deutlich erhöht haben. Deshalb dürfte die allgemeine Aussage, dass Überstundenprozesse häufig wenig Aussicht auf Erfolg haben, nicht mehr in dieser Allgemeinheit zutreffen. Am besten wenden sich betroffene Arbeitnehmer an einen Anwalt Ihres Vertrauens, vorzugsweise an einen Fachanwalt für Arbeitsrecht.

Viel Erfolg!

 

Dr. Bert Howald

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht

Gaßmann & Seidel Rechtsanwälte PartmbB, Stuttgart

Foto(s): Gaßmann & Seidel

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