Arzthaftungsrecht: Künftig Schmerzensgelder in Millionenhöhe?

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Neue Entscheidungen lassen aufhorchen: Erstmals wurde ein Schmerzensgeld von 1.000.000 € verhängt. Werden die Schmerzensgelder in Arzthaftungsfällen in Zukunft deutlich ansteigen?

Wer als Patient einen Behandlungs- oder Aufklärungsfehler erleidet, bekommt von deutschen Gerichten oftmals nur ein verhältnismäßig geringes Schmerzensgeld zugesprochen. Grund dafür ist, dass das Schmerzensgeld in Deutschland – anders als etwa in den USA – keine Bestrafungs- oder Abschreckungsfunktion hat.

Seit etwas mehr als zehn Jahren urteilen deutsche Gerichte Schmerzensgeldbeträge von bis zu 500.000 € aus. Regelmäßig handelt es sich hier um Fälle schwerster Geburtsfehler, bei denen die betroffenen Kinder erhebliche Gesundheitsschäden erlitten haben und lebenslang ein Pflegefall sein werden.

Grenze von 500.000 € Schmerzensgeld überschritten

In der letzten Zeit gab es jedoch mehrere Gerichtsentscheidungen, bei denen die Schwelle von 500.000 € Schmerzensgeld deutlich überschritten und sogar die 1.000.000 €-Grenze erreicht wurde. Teilweise gingen die Gerichte dabei sogar von sich aus deutlich über die von den betroffenen Patienten geforderte Schmerzensgeldsumme hinaus. Hierzu vier Beispielsfälle:


1.630.000 € Schmerzensgeld – schwere Hirnschädigung eines Säuglings durch verkannten Herzfehler

In einem Paderborner Krankenhaus kam 2008 ein Mädchen mit einem Herzfehler und einer verengten Aorta zur Welt. Aufgrund eines groben Behandlungsfehlers wurde das Baby unbehandelt nach Hause entlassen; es erlitt dort wenige Tage später einen Herzstillstand. Das Mädchen konnte zwar reanimiert und gerettet werden, ist seitdem aber körperlich und geistig schwerstbehindert und benötigt lebenslange Pflege.

Landgericht Paderborn, Entscheidung noch nicht veröffentlicht

2.

800.000 € Schmerzensgeld – schwere Hirnschädigung eines Jugendlichen während Nasen-OP


Im Jahr 2013 wurde ein 17-jährige Patient in der Uniklinik Gießen wegen eines Nasenbeinbruchs operiert. Eigentlich ein unkomplizierter Routineeingriff, der hier jedoch schicksalhaft endete: Weil die Schläuche am Beatmungsgerät falsch eingesteckt waren, kam es während der Vollnarkose zu einer 25-minütigen Sauerstoffunterversorgung. Der Jugendliche erlitt dadurch einen schweren hypoxischen Hirnschaden und wurde zu einem Schwerstpflegefall. Der Grad der Behinderung beträgt 100.

Landgericht Gießen, Urt. v. 06.11.2019, Az.: 5 O 376/18

3.800.000 € Schmerzensgeld – schwerste Gesundheitsschädigung eines 5-Jährigen durch verkannte Meningokokken-Sepsis

Im Jahr 2011 wurde ein 5-jähriger Junge mit Schüttelfrost und Fieber in ein Emdener Krankenhaus eingeliefert. Weil dem Nachtpfleger mehrere Fehler unterliefen, wurde die Meningokokken-Infektion des Jungen zu spät erkannt. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich dramatisch, und er konnte nur durch mehrere Notoperationen gerettet werden. Dabei wurden ihm beide Unterschenkel amputiert und in großem Ausmaß Haut- und Muskelgewebe transplantiert. Der Junge hat darüber hinaus schwere, großflächige Hautschäden erlitten und ist u.a. im Gesicht dauerhaft entstellt. Er ist stark traumatisiert. Ihm werden voraussichtlich noch zahlreiche Folgeoperationen bevorstehen.

OLG Oldenburg, Urt. v. 18.03.2020, Az. 5 U 196/18

4.1.000.000 € Schmerzensgeld – schwere Hirnschädigung eines Säuglings nach Verschlucken und fehlerhaften Rettungsmaßnahmen

Ein 1-jähriger Säugling wurde 2011 im Limburger St. Vincenz-Krankenhaus wegen eines fieberhaften Infekts behandelt. Als ihm die Krankenschwester eine Infusion verabreichen wollte, regte sich der Junge darüber so stark auf, dass er sich an einem gerade verzehrten Apfelstück verschluckte und blau anlief. Die daraufhin vom Klinikpersonal ergriffenen Rettungsmaßnahmen waren fehlerhaft. Der Säugling erlitt durch den Sauerstoffmangel gravierende Hirnschäden. Er ist seitdem hochgradig behindert und muss rund um die Uhr betreut werden.

LG Limburg, Urt. vom 28.06.2021 - 1 O 45/15

Signifikante Steigerungen bislang nur in Einzelfällen

Bei den oben angeführten Verfahren handelt es sich um äußerst tragische, schwerwiegende Einzelschicksale. Die ausgeurteilten Schmerzensgelder lassen sich in diesen Fällen durchaus nachvollziehen. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob die Entscheidungen Bestand haben; teilweise sind sie nämlich noch nicht rechtskräftig. Auf jeden Fall sind die Urteile ein deutliches Zeichen zu Gunsten junger, schwerstgeschädigter Patienten. Hiermit werden sich auch die Haftpflichtversicherer aus den Bereichen Geburtsheilkunde sowie Kinder- und Jugendheilkunde auseinandersetzen müssen. Von einer generellen Steigerung bei Schmerzensgeldbeträgen kann dagegen nicht gesprochen werden. Hier muss die weitere Entwicklung beobachtet werden.

Kriterien für Schmerzensgeld-Bemessung

Um die Höhe des Schmerzensgeldes zu bestimmen, sind verschiedene Punkte wichtig. Ausgangspunkt ist immer die Doppelfunktion des Schmerzensgeldes:

1.Ausgleichsfunktion: Das Schmerzensgeld soll dem geschädigten Patienten einen angemessenen Ausgleich für das erlittene (und ggf. noch bevorstehende) körperliche und seelische Leid verschaffen.
2.Genugtuungsfunktion: Das Schmerzensgeld soll dem geschädigten Patienten eine Genugtuung für das verschaffen, was ihm der Schädiger angetan hat. In Arzthaftungsfällen hat dieser Aspekt jedoch – anders als z.B. bei vorsätzlichen Straftaten – meist nur eine untergeordnete Bedeutung. Denn bei ärztlichem Handeln steht das Bestreben im Vordergrund, dem Patienten zu helfen und ihn von seinen Beschwerden zu befreien.
  • Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes müssen außerdem alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Daher sind Vergleiche mit anderen, scheinbar gleich gelagerten Fällen oft nur bedingt möglich. Im Folgenden sind die wichtigsten Kriterien angeführt, die bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes eine besondere Rolle spielen. All diese Aspekte müssen in einem Prozess umfassend gewürdigt und in einer Gesamtschau zu einem einheitlichen Schmerzensgeldbetrag zusammengefügt werden.


Kriterien auf Seiten des geschädigten Patienten:



Art und Ausmaß der Verletzung:

Wie schwer ist die eingetretene Schädigung? Gibt es körperliche und seelische Folgeschäden? Welches Ausmaß haben diese? Kann der Geschädigte bestimmte Tätigkeiten noch aktiv, selbständig und selbstbestimmt erledigen? Oder ist er dauerhaft und vollumfänglich auf fremde Hilfe angewiesen?











Intensität und Dauerhaftigkeit des Leidens:

Wie stark sind die seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen des Geschädigten? Hat er starke Schmerzen? Handelt es sich um länger anhaltende Beeinträchtigungen? Muss er dauerhaft Medikamente einnehmen oder sich permanent in ärztliche Behandlung geben? Stehen dem Geschädigten noch Folge- bzw. Revisionsoperationen bevor?











Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen:

Wie stark sind die sozialen Beeinträchtigungen des Geschädigten? Meidet er die Öffentlichkeit (z.B. wegen einer schweren Entstellung)? Ist er nachhaltig traumatisiert oder gar dauerhaft psychisch gestört? Kann er noch mit seiner Umwelt kommunizieren, Gefühle oder Gedanken äußern? Oder lebt er abgeschnitten in seiner „eigenen Welt“ und hat die eigene Persönlichkeit weitestgehend verloren?











Alter des Geschädigten:

Je jünger ein Geschädigter ist, und je gravierender die Verletzungen sind, desto höher fallen in der Regel die Schmerzensgeldbeträge aus. Die höchsten Zahlungen gehen an schwerstbehinderte Kinder, weil bei ihnen bereits in jungen Jahren sämtliche Lebensperspektiven zerstört wurden. Sie haben noch ihr gesamtes Leben und damit eine noch längere Leidenszeit vor sich. Für sie gibt es keine normale Kindheit. Oft müssen sie auch ihre Jugend- und Erwachsenenzeit zu großen Teilen in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen verbringen. Der Aufbau von normalen Sozialbeziehungen, das Erlernen eines Berufs oder die Gründung einer eigenen Familie ist ihnen deutlich erschwert oder sogar ganz unmöglich.

Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass älteren Geschädigten oft nur geringere Schmerzensgeldsummen zugesprochen werden. Denn bei ihnen ist die verbliebene Lebens- und Leidenszeit naturgemäß kürzer. Die Betroffenen sind oftmals auch schon wegen "normaler" altersbedingter Einschränkungen oder anderer Grunderkrankungen in der Lebensführung beeinträchtigt.












Fähigkeit des Geschädigten, den Schaden zu begreifen und unter ihm – oder sogar einer Verschlimmerung – gegebenenfalls noch jahrelang zu leiden:

Es kann sich schmerzensgelderhöhend auswirken, wenn der Geschädigte seine Hoffnungen auf Genesung zunehmend schwinden sieht oder er sich sogar auf den immer konkreter bevorstehenden Tod einstellen muss.











wirtschaftliche Verhältnisse des Geschädigten / Niedrigzinsphase

Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten können bei der Schmerzensgeldbemessung ebenfalls eine Rolle spielen. Aufgrund der aktuell anhaltenden Niedrigzinsphase wird in diesem Zusammenhang vor allem folgendes Argument immer wichtiger: Selbst mit hohen Geldbeträgen können derzeit praktisch keine Zinsen mehr erwirtschaftet werden bzw. es droht sogar ein Geldverlust durch „Minuszinsen“. Diesen Aspekt wird die Rechtsprechung zukünftig (noch stärker) mit einem entsprechenden Zuschlag auf das Schmerzensgeld berücksichtigen müssen. Andernfalls droht de facto eine Entwertung des Schmerzensgeldes im Vergleich zu den in der Vergangenheit ausgeurteilten Beträgen.


Kriterien auf Seiten des Schädigers:



Grad des Verschuldens:

Hat der Schädiger grob fahrlässig oder nur leicht fahrlässig gehandelt? Handelt es sich um Schäden und Verletzungen aus dem Bereich des sogenannten „voll beherrschbaren Risikos“ (d.h. zurückgelassenes OP-Material, falsche Lagerung, Geräte- oder Transportschäden)? Diese wirken sich in der Regel schmerzensgelderhöhend aus.











Regulierungsverhalten des Schädigers bzw. seiner Haftpflichtversicherung:

Wie verhält sich der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung bei der Regulierung des Schadens? Wenn eine Haftpflichtversicherung z.B. trotz eindeutiger Zahlungsverpflichtung nicht oder nur zögerlich unangemessen niedrige vorprozessuale Zahlungen leistet, kann dies zu einem Zuschlag beim Schmerzensgeld führen. Denn: Ein solches Verhalten ist für den Geschädigten oft äußerst belastend und sachlich nicht mehr nachzuvollziehen.











wirtschaftliche Verhältnisse des Schädigers:

Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten können bei der Schmerzensgeldbemessung im Einzelfall ebenfalls eine Rolle spielen.


von Rechtsanwältin Dr. Yvonne Schuld, LL.M.

www.kanzlei-schuld.de

Foto(s): Pixabay/Bokskapet


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