Berufsunfähigkeitsversicherung: faktische Berufsausübung oder Raubbau am eigenen Körper?

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Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 11. Februar 2020 – 11 W 10/19

Berufsunfähigkeitsversicherung: faktische Berufsausübung oder Raubbau am eigenen Körper?

In der faktischen Ausübung des Berufs kann nach der Rechtsprechung ein starkes Indiz dafür gesehen werden, dass beim Versicherungsnehmer keine Berufsunfähigkeit vorliegt. Dabei kann der Umstand der tatsächlichen Berufsausübung sogar einen höheren Beweiswert haben als die dem entgegenstehenden ärztlichen Befunde. Ein aus Existenzangst erfolgter „Raubbau am eigenen Körper“ durch die tatsächliche Berufsausübung muss plausibel dargelegt werden.

Die depressive, aber pflichtbewusste Versicherungsnehmerin

Die im Jahr 1978 geborene Versicherungsnehmerin schloss bei einem Versicherer einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit Laufzeitbeginn 01.10.2000. Von März 2011 bis Mai 2015 war die Versicherungsnehmerin als Mitarbeiterin in der Kundenbetreuung für Zufriedenheitsanalyse und Kundenbindung in Vollzeitbeschäftigung angestellt. Von August 2015 bis einschließlich Dezember 2015 war sie im Rahmen einer Alltagsbegleitung einer Seniorenresidenz beschäftigt und arbeitete in den Monaten Januar und Februar 2016 als Account Managerin. Seit 2004 war die Versicherungsnehmerin verschiedentlich in ärztlicher Behandlung, u. a. auch immer wieder wegen psychischer Beschwerden. Im Oktober 2017 zeigte sie gegenüber dem Versicherer erstmals den von ihr behaupteten Eintritt der Berufsunfähigkeit an und teilte mit, dass sie seit Januar 2016 an Depressionen erkrankt sei. Auch teilte sie mit, dass sie bereits wegen derselben Diagnose im Jahr 2015 krankgeschrieben gewesen sei und bat den Versicherer um Prüfung des Leistungsfalls ab Anfang 2015.

Der Versicherer holte bei den behandelnden Ärzten der Versicherungsnehmerin Auskünfte ein. Keiner der angefragten Ärzte bestätigte den Eintritt einer Berufsunfähigkeit ab Januar 2015. Zudem – so der Versicherer – ergebe sich schon aus den von der Versicherungsnehmerin selbst vorgetragenen Umständen nicht, dass eine über sechs Monate andauernde Berufsunfähigkeit seit dem 01.01.2015 vorgelegen habe. Daher wurde jedwede Leistungspflicht abgelehnt.

Leistungsklage gegen Versicherer – aber nur mit Prozesskostenhilfe

Die Versicherungsnehmerin beabsichtigte nun, ihre Ansprüche klageweise geltend zu machen. Diesbezüglich beantragte sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, die u. a. gewährt wird, wenn die Klage hinreichende Erfolgsaussichten hat. Sie begründete ihren Antrag damit, dass sie zum 01.01.2015 über sechs Monate hinaus an einer mittelgradigen depressiven Episode, verschiedenen und kombinierten Persönlichkeitsstörungen (Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen, massive Schlafstörungen, Schuldgefühle), Anpassungsstörungen, akuten Belastungsstörungen und einer allergischen Kontaktdermatitis gelitten habe, wodurch bereits seit Januar 2015 die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit bei ihr eingetreten sei. Lediglich aus Pflichtbewusstsein und Existenzangst habe sie sich trotz objektiver Berufsunfähigkeit weiter zur Arbeit „geschleppt“.

Das Landgericht Potsdam versagte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussichten der Klage. In einer summarischen Prüfung gelangte das Gericht zu dem Ergebnis, dass noch nicht einmal die Versicherungsnehmerin zum Zeitpunkt 01.01.2015 von einer bestehenden Berufsunfähigkeit ausgegangen sei. Zudem habe sie nicht hinreichend vorgetragen, durch welches zur Berufsunfähigkeit gehörende Krankheitsbild sie an welcher konkreten Tätigkeit gehindert gewesen sei.

Beschwerde gegen Versagung der Prozesskostenhilfe

Gegen diesen Beschluss legte die Versicherungsnehmerin Beschwerde ein. Auch das OLG befand jedoch, dass die Beschwerde in der Sache keinen Erfolg habe. Das Rechtsmittel sei unbegründet.

Trotz des gebotenen großzügigen Prüfungsmaßstabs gelangte das OLG zu dem Ergebnis, dass der Vortrag der Versicherungsnehmerin nicht schlüssig ist. Hierfür wäre darzulegen gewesen, dass die Versicherungsnehmerin ihren ausgeübten Beruf nicht mehr dauerhaft ausüben und keine andere Tätigkeit mehr verrichten könne, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung von ihr ausgeübt werden könnte und ihrer bisherigen Lebensstellung entspräche.

Die Versicherungsnehmerin aber konnte bis zuletzt nicht plausibel darlegen, welches Krankheitsbild sie an welcher der ausgeübten Tätigkeiten gehindert hat und welche beruflichen Beeinträchtigungen aufgrund ihrer beispielsweise behaupteten Duftallergie im Rahmen einer Callcenter-Tätigkeit eingetreten waren. Gerade bei einem multiplen und diffusen Krankheitsbild, das im wesentlichen psychische Befindlichkeitsstörungen, etwa Angstzustände, Schlaf- und Konzentrationsstörungen und ähnliche Beschwerden zum Gegenstand hat, genügt es nicht, wenn ein Versicherungsnehmer nur behauptet, dass alle seine bisherigen Tätigkeiten nicht mehr möglich sind. Ein Vortrag der Versicherungsnehmerin zu etwaigen alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten im Rahmen ihres Ausbildungsstandes fehlte gänzlich.

Nach den hier relevanten Versicherungsbedingungen muss der Versicherungsnehmer über einen Zeitraum von sechs Monaten „ununterbrochen” berufsunfähig gewesen sein. Ein solcher Zeitraum ununterbrochener Berufsunfähigkeit wurde seitens des Gerichts verneint. Hiergegen spreche bereits der Umstand, dass die Versicherungsnehmerin zum 01.01.2015 und noch weitere fünf Monate in Vollzeit gearbeitet habe. Hinzu komme, dass sie sich ausweislich der von ihr bei dem Versicherer eingereichten Unterlagen im Sommer 2015 beruflich neu orientierte und dann ab August 2015 eine neue Tätigkeit aufnahm.

Faktische Ausübung des Berufs ist ein starkes Indiz

Eine faktische Ausübung des Berufs ist – so das OLG und viele weitere Obergerichte – ein starkes Indiz dafür, dass keine Berufsunfähigkeit vorliegt. Auch eine ganz oder teilweise Krankschreibung von sechs oder mehr Monaten belegt nicht ohne Weiteres eine bedingungsmäßige Berufsunfähigkeit. Die Versicherungsnehmerin war darüber hinaus im streitgegenständlichen Zeitraum nicht kontinuierlich krankgeschrieben. Auch stützen sich einige der Krankschreibungen auf akute Infekte der Atemwege oder Prellungen des Ellenbogens, also Einschränkungen, die mit den hier angegebenen Gründen einer etwaigen Berufsunfähigkeit nichts zu tun hatten. Die Versicherungsnehmerin konnte nicht überzeugend erklären, warum es ihr trotz behaupteter Berufsunfähigkeit überhaupt möglich gewesen war, in Vollzeitbeschäftigung zu arbeiten. Dass sie hier aus Existenzangst „Raubbau an ihrem Körper“ betrieben habe, war angesichts der Krankheitszeiten, die sie während des Beschäftigungsverhältnisses hatte, schon nicht plausibel. Anders als in Fällen, in denen etwa ein Geschäftsführer um das Überleben „seiner“ Firma kämpft und dadurch unter Zurückstellung seiner Gesundheit Raubbau an seinem Körper betreibt, hat sich die Versicherungsnehmerin ausweislich der von ihr vorgelegten Krankenhistorie auch für 2–3 Tage wegen einer Erkältungskrankheit oder einer Ellenbogenprellung arbeitsunfähig gemeldet.

Wer also meint, krankheitsbedingt berufsunfähig zu sein, sollte schnellstmöglich anwaltliche Unterstützung in Anspruch nehmen, um seine Ansprüche gegenüber dem Versicherer durch eine faktische Berufsausübung aus Pflichtbewusstsein und/oder Existenzangst nicht zu verlieren.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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