Einziehung nach §§ 73 ff. StGB im Jugendstrafrecht; Streit innerhalb des Bundesgerichtshofs

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Das Jugendstrafrecht ist darauf ausgelegt, dem jugendlichen Rechtsbrecher das Unrecht seiner Tat vor Augen zu führen und so auf ihn einzuwirken, dass er künftig keine Straftaten mehr begeht. Der Erziehungsgedanke ist dabei das allumfassende Grundprinzip des Jugendstrafrechts, das nur durch wenige Ausnahmen durchbrochen wird. Unter Jugendrichtern ist es umstritten, ob die vom Gesetzgeber im Grundsatz zwingende Einziehung von Taterträgen nach §§ 73 ff. StGB mit diesem Erziehungsgedanken in Einklang zu bringen ist. 

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte sich zunächst ausdrücklich zu dieser Frage geäußert und erklärt, dass eine Einziehung nicht nur mit dem Erziehungsgedanken vereinbar, sondern von diesem sogar mitunter eingefordert wird, BGH vom 8.5.2019, Az.: 5 StR 95/19. Diese Entscheidung haben wir zum Anlass genommen, Ihnen in diesem Rechtstipp einige Fragen zum Einziehungsrecht im Jugendstrafverfahren zu beantworten, dazu sogleich.

Zwischenzeitlich hat der 1. Strafsenat erklärt, er beabsichtige zu entscheiden, dass die Einziehung im Jugendstrafverfahren im Ermessen des Tatgerichts stehe. Er hat deshalb einen sog. Anfragebeschluss an den 2. und 5. Strafsenat gestellt, ob diese an ihrer entgegenstehenden Rechtsauffassung festhalten. Auch die Argumente des 1. Strafsenats wollen wir Ihnen im Laufe dieses Rechtstipps (Nr. 4) zusammenfassen. Unter 5. informieren wir dann über die aktuellste Entwicklung (Stand: Oktober 2020).

1. Ausgangsfall

Der Entscheidung des 5. Strafsenats lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem der Angeklagte durch unterschiedliche Taten eine Spielkonsole im Wert von 100,00 EUR gestohlen und zwei Musikboxen im Wert von 150,00 bzw. 200,00 EUR unterschlagen hatte. Die Jugendkammer des Landgerichts hatte von einer Einziehung des Wertes der erlangten Gegenstände abgesehen. Zur Begründung führte sie aus, dass der Angeklagte die Gegenstände nicht mehr besitze und die Einziehung im Jugendstrafrecht auch nicht zwingend sei. Die Rechtsfolgen einer Verurteilung seien am Erziehungsgedanken auszurichten und deshalb sei in diesem Fall von einer Einziehung des Wertersatzes abzusehen. 

2. Die Begründung des 5. Strafsenats

Der 5. Strafsenat änderte das Urteil des Landgerichts dahingehend ab, dass gegen den Angeklagten die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 450,00 EUR angeordnet wurde. Der Senat führte aus, dass die Einziehung im Jugendstrafrecht auch nach der Reform 2017 zwingend sei. Unbillige Härten des Betroffenen könnten im Vollstreckungsverfahren nach § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO vermieden werden. 

Anmerkung: Nur, weil eine Gerichtsentscheidung eine Einziehung vorsieht, heißt das nicht, dass diese auch vollstreckt werden muss. Das Strafverfahren ist, vereinfacht ausgedrückt, in das Ermittlungsverfahren, das Hauptverfahren und das Vollstreckungsverfahren zu unterteilen. § 459g Abs. 5 StPO gilt nur in diesem letzten, dem Vollstreckungsverfahren. Ist eine Einziehung unverhältnismäßig, muss sie unterbleiben.

Der 5. Strafsenat führte weiter aus, dass im Rahmen der Prüfung des § 459g Abs. 5 StPO sowohl der Umstand, dass der Betroffene die durch die Tat erlangten Gegenstände nicht mehr besitze, als auch der erzieherische Grundgedanke des Jugendstrafverfahrens zu berücksichtigen seien. Er stellte schließlich klar, dass nach seiner Auffassung die Abschöpfung von Erträgen aus Straftaten „dem Erziehungsgedanken regelmäßig entsprechen wird“. 

3. Bewertung der Entscheidung

Die Entscheidung des 5. Strafsenats ist fundiert und nachvollziehbar begründet. Es wäre in der Tat nicht verständlich, wieso der Jugendliche, der beispielsweise Geld stiehlt und mit diesem Geld „feiern geht“, das Geld nicht an den Bestohlenen zurückzahlen sollte. Der Erziehungsgedanke des Jugendgerichtsgesetzes steht einer solchen Rückzahlungspflicht jedenfalls nicht per se entgegen, im Gegenteil. Wie der Senat zutreffend erklärt, kann es erzieherisch gerade sinnvoll sein, den Jugendlichen zur Schadenswiedergutmachung zu verpflichten, damit er lernt, dass seine Handlungen auch Konsequenzen haben.

a) Sonderfälle, in denen keine Einziehung möglich ist?

Fraglich ist jedoch, ob es nicht auch Fälle geben kann, in denen der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts einer solchen Einziehungsanordnung tatsächlich entgegensteht. So vertrat etwa das Amtsgericht Rudolstadt in seinem Urteil vom 29.8.2017, Az.: 312 Js 11104/17, die Auffassung, die Einziehung sei immer unzulässig, wenn der Täter den Wert des Erlangten nicht mehr in seinem Vermögen habe. Die umfangreich begründete Entscheidung argumentiert im Wesentlichen dahingehend, dass fester Bestandteil des Erziehungsgedankens des Jugendgerichtsgesetzes sei, den Jugendlichen so weit wie möglich von finanziellen Belastungen freizustellen. Als Argument hierfür führt es etwa die Sonderregelung des § 74 JGG an, wonach von einer Auferlegung der Kosten des Verfahrens bei Jugendlichen sogar dann abgesehen werden kann, wenn sie wegen der ihnen vorgeworfenen Straftat verurteilt werden.

Praxistipp: Dieses Argument ist zwar zutreffend, kann aber nicht dazu führen, den Jugendlichen grundsätzlich und ohne besondere Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls von entsprechenden Einziehungsmaßnahmen zu verschonen. Das Landgericht Münster hat in diesem Zusammenhang mit seinem Urteil vom 12.7.2018, Az.: 10 Ns 220 Js 384/15, zutreffend dargelegt, dass unter Berücksichtigung der konkreten Leistungsfähigkeit des Jugendlichen eine finanzielle Belastung sinnvoll sein kann, „um nicht einen kriminogenen Anreiz zur Begehung weiterer Straftaten zur Bezahlung der Verbindlichkeiten zu schaffen.“ Die Argumentation des Amtsgerichts Rudolstadt kann schon aus diesem Grunde nicht auf alle Jugendstrafverfahren übertragen werden.

b) Einziehung unter Berücksichtigung von eigenen Aufwendungen des Jugendlichen?

Das Landgericht Münster zieht aus den von ihm dargestellten Grundsätzen wiederum den Schluss, eine Einziehung sei im Jugendstrafrecht nur in dem Umfang möglich, in dem das Vermögen des Jugendlichen durch die Straftat noch erhöht sei bzw. sein Vermögen überhaupt gemehrt wurde. Es nimmt damit eine Einschränkung des sog. Bruttoprinzips vor. 

Anmerkung: Das Bruttoprinzip hat der Gesetzgeber vor vielen Jahren eingeführt. Es besagt, dass bei Berechnung des Wertes des durch die Tat erlangten Vermögenswertes nicht nur der Vermögensvorteil in Ansatz gebracht werden darf. Es geht, vereinfacht ausgedrückt, nicht um den Gewinn, sondern den Umsatz: A kauft für 10.000,00 EUR Betäubungsmittel und verkauft sie für 15.000,00 EUR weiter. Der Einziehung unterliegen 15.000,00 EUR, nicht etwa nur 5.000,00 EUR. 

Praxistipp: Die Argumentation des Landgerichts Münster ist zwar grundsätzlich nachvollziehbar, greift aber auch in allen anderen Fällen der Vermögensabschöpfung außerhalb des Jugendstrafverfahrens. Seit jeher bestehen deshalb in der Literatur Bedenken  gegen das Bruttoprinzip, die nicht jugendstrafrechtsspezifisch sind. Der Gesetzgeber hat indes keine Sonderregelungen in Form der Einschränkung des Bruttoprinzips im Jugendstrafrecht vorgesehen. Für eine einschränkende Auslegung der §§ 73 ff. StGB fehlt es daher nach zutreffender Auffassung (vgl. etwa Köhler in NStZ 2018 S. 731) an einer Anknüpfung im Gesetz. Die Entscheidung des Landgerichts Münster kann deshalb ebenfalls nicht überzeugen.

4. Entscheidung des 1. Strafsenats

Auch der 1. Strafsenat führt in seinem Anfragebeschluss valide Argumente für seine Ansicht, die Einziehung stehe im Ermessen des Tatgerichts, an. So räumt zunächst der Wortlaut des § 8 Abs. 3 Satz 1 JGG, der die sog. Nebenfolgen der Tat und damit auch die Einziehung erfasst, dem Gericht ein Ermessen ein. 

Darüber hinaus sieht der Senat in einer zwingenden Anordnung der Einziehung gegen den Jugendlichen das „differenzierte und abgestufte Gesamtgefüge möglicher Rechtsfolgen im Jugendstrafrecht unterlaufen.“ Das gelte vor allem für die Einziehung von Wertersatz, die dem Staat eine Geldforderung gegenüber dem Jugendlichen erbringt. Denn die Geldauflage nach § 15 Abs. 1 Satz 2 JGG darf ebenfalls nur angeordnet werden, wenn sie keine unzumutbare Anforderung an den Jugendlichen stellt. 

Schließlich erklärt der 1. Strafsenat, dass nach seiner Auffassung auch die Regelung in § 459g Abs. 5 StPO kein ausreichendes Korrektiv enthalte, um diesen Bedenken zu begegnen. Dies wird einerseits damit begründet, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Entreicherung umstritten sei, andererseits damit, dass das Merkmal der Entreicherung selbst bereits umstritten sei. Letztlich sei auch eine Aufnahme der Vollstreckung jederzeit wieder möglich, eine Unsicherheit, die der Senat dem Jugendlichen nicht zumuten möchte.

5. Vorlagebeschluss an den Großen Senat für Strafsachen

Der 1. Strafsenat hat dem sog. Großen Senat für Strafsachen mittlerweile die Frage, ob die Einziehung des Wertes von Taterträgen nach § 73c StGB im Ermessen des Tatgerichts steht, zur Entscheidung vorgelegt. Der Große Strafsenat wird sich nun mit dieser Frage befassen und eine für alle Senate verbindliche Entscheidung treffen.

6. Fazit für die Einziehung im Jugendstrafrecht

Die Einziehung nach §§ 73 ff. StGB ist auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung umstritten. Es bleibt nun abzuwarten, wie der Große Strafsenat entscheiden wird.

Festzustellen ist aktuell, dass es nicht „die“ korrekte Lösung für die Einziehung im Jugendstrafrecht gibt, sondern es hier, noch stärker als im Erwachsenenstrafrecht, auf die konkreten Umstände des Einzelfalls und die Person des Angeklagten ankommt. Das gibt freilich einen Argumentationsspielraum für die Verteidigung.


Autor:

Rechtsanwalt Dr. Pascal Johann; seit 2013 Kommentator der Vermögensabschöpfungsvorschriften der §§ 111b ff. StPO im Löwe-Rosenberg Großkommentar zur Strafprozessordnung; Promotion zum Dr. iur. im Jahr 2018 zum Thema „Möglichkeiten und Grenzen des neuen Vermögensabschöpfungsrechts“; deutschlandweite Vertretung und Vortragstätigkeit zu Fragen des Vermögensabschöpfungsrechts.

Foto(s): Dr. Johann

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