„Nur“ arbeitsunfähig oder schon schwerbehindert?

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Jedes Sozialgesetzbuch hat eine andere Sichtweise zum Begriff der Behinderung. Da gibt es Begriffe wie Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsminderung, Schwerbehinderung. Kommt dann noch das Wort „Berufsunfähigkeit“ oder gar „Erwerbsunfähigkeit“ hinzu, ist die Verwirrung komplett.

Am einfachsten für einen Einstieg in die verschiedenen Begriffe dürfte es sein, sich an Zahlen zu orientieren. Der kleinste gemeinsame „Nenner“ ist sozusagen die Krankheit. Sie kann zunächst zur Arbeitsunfähigkeit führen. „Arbeitsunfähigkeit ist ein durch Krankheit oder Unfall hervorgerufener Körper- und Geisteszustand, aufgrund dessen der Versicherte seine bisherige Erwerbstätigkeit überhaupt nicht oder nur unter der in absehbar nächster Zeit zu erwartenden Gefahr der Verschlimmerung seines Zustandes weiter ausüben kann“ (BSGE 19, 179). Salopp gesagt: Schlimm, aber das geht vorüber. Jedoch: Wie lange dauert denn dieser „Körper- oder Geisteszustand“ an? Was bedeutet „in nächster Zeit“?

Eine Verständnishilfe bietet hier das SGB IX, das Buch der Rehabilitation und Teilhabe. § 2 I SGB IX definiert: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“. Erste Zahl ist also die sechs, denn erst nach sechs Monaten kann aus einer Krankheit eine Behinderung i. S. d. Schwerbehindertenrechts werden (Ausnahmen sind z. B. ein Unfall, der zur Querschnittlähmung führt, ein rasant anwachsender Tumor o. ä.). Vor Ablauf dieser sechs Monat ist es in der Regel „nur“ eine Krankheit. Sie ist behandlungsbedürftig, aber auch behandlungsfähig, d. h., da kann sich noch etwas ändern. Nach sechs Monaten hat sich ein Dauerzustand herausgebildet und man kann einschätzen, wie der Betroffene mit seiner Beeinträchtigung umgeht.

Die nächste Zahl wäre die 50, denn „Menschen sind schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt“, § 2 II SGB IX.

Wenn man sich das in Stufen vorstellen möchte: Die erste Stufe ist die Arbeitsunfähigkeit, dann folgt die Behinderung, die „Krönung“ ist die Schwerbehinderung.

Wie steht das in Verbindung zur Erwerbsminderung? Überhaupt nicht. Wer erwerbsgemindert ist, ist nicht zwangsweise schwerbehindert und umgekehrt. Aber auch hier helfen Zahlen weiter: Eine volle Erwerbsminderung liegt vor, wenn das Leistungsvermögen unter 3 Stunden täglich gesunken ist, eine teilweise Erwerbsminderung bei einem Leistungsvermögen von 3 – 6 Stunden.

Noch in einem weiteren Bereich spielt die Zahl sechs eine entscheidende Rolle: In der Pflegeversicherung. „Pflegebedürftig sind Personen, die … auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate … der Hilfe bedürfen“, § 14 I SGB XI.

Juristisch alleine kommt niemand hier weiter, es bedarf schon des Zusammenwirkens von Arzt und Anwalt. Allerdings dürfte nirgends die Kluft größer sein als zwischen behandelndem Arzt und begutachtendem Arzt. Während der erstere eine lange „Karriere“ gemeinsam mit dem Betroffenen hat (u. U. Behandelt er ihn schon seit Jahren und trifft Prognosen bzgl. der Entwicklung der Krankheit), wir der begutachtende Arzt immer nur eine Momentaufnahme erstellen können. Dem Anwalt fällt häufig die unangenehme Aufgabe zu, zwischen den beiden zu vermitteln und dem Mandanten zu erklären, warum der behandelnde Arzt ganz anders (nämlich in der Regel positiver) für den Mandanten urteilt als ein Gutachter.

Die obengenannten Zahlenbeispiele sind immer nur Anhaltspunkt für Mandanten, um zu überlegen, ob es überhaupt Sinn macht, einen Antrag zu stellen (z. B. wird man drei Wochen nach einem Beinbruch noch nicht feststellen können, ob eine Behinderung vorliegt).


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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