Querschnittslähmung nicht erkannt: 175.000 Euro

  • 5 Minuten Lesezeit

Mit Vergleich vom 28.08.2020 hat sich die Haftpflichtversicherung eines Krankenhauses verpflichtet, an meine Mandantin ein Schmerzensgeld in Höhe von 175.000 Euro zu zahlen. Die Versicherung hat auch meine kompletten anwaltlichen Gebühren übernommen.             

Die 1950 geborene Mandantin leidet unter kognitiven Funktionseinschränkungen aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens bei mittelgradiger Intelligenzminderung. In einem Pflegegutachten wurde dokumentiert, dass bei ihr eine spastische Paraparese mit Gelenkskontrakturen in beiden Knien und Sprunggelenken sowie ein Hypertonus vorliegen. Sie war deshalb bereits vor dem Behandlungsfehler in ihrer Alltagskompetenz in erhöhtem Maße eingeschränkt, weshalb ihr eine Pflegestufe zugebilligt wurde. Sie lebt in einem Pflegeheim.

Aufgrund einer Verschlechterung ihres Allgemeinzustandes wurde sie von ihrem Hausarzt mit der Diagnose "Unklare Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen der Beine und des Bauches" und der Diagnose eines "schweren generativen bekannten Wirbelsäulenschadens" in das Krankenhaus eingeliefert, wo sie vier Tage stationär behandelt wurde. Eine Anamnese war wegen ihrer geistigen Behinderung nicht möglich, wobei auch die Mitarbeiterin des Pflegeheims gegenüber den Ärzten keine konkreten Auskünfte erteilen konnte. In der Dokumentation der Notaufnahme waren Beinparesen beidseits dokumentiert. Weil ein akuter Handlungsbedarf aus neurologischer Sicht verneint wurde, wurde die Mandantin auf der Internistischen Station aufgenommen.

In der Folgezeit äußerte sie wiederholt Schmerzen, vor allem im Bereich der Brustwirbelsäule und im Bereich des Rippenbogens. Sie konnte Lagerungswechsel nicht mehr selbständig vollziehen. Die Ärzte veranlassten deshalb wegen der nach wie vor bestehenden Paraparesen in beiden Beinen eine Multi-Slice-Spiral-CT der Brust- und Lendenwirbelsäule. Diese Untersuchung ergab zum Teil höchstgradige Wirbelkörpersinterungen BWK7 - 10 und hierdurch bedingt im BWS-Bereich vermehrte Kyphose, einen diskreten Deckplatteneinbruch des LWK5, keine Spinalkanalstenose und keine Zeichen einer Myelonkompression.

Einen Tag später fand ein neurologisches Konsil statt. Der Neurologe dokumentierte, die Patientin habe nicht viel zur Anamnese beitragen können. Ihre Beine habe sie weder spontan noch nach taktilem oder Schmerzreiz bewegen können. Zudem habe in beiden Füßen ein nicht erschöpflicher Fußklonus bestanden. Es wurde eine leichte Reflexdifferenz an den oberen und unteren Extremitäten beschrieben. Der Neurologe dokumentierte klinisch ein Querschnittssyndrom, dessen Höhe mangels verwertbarer Angaben der Mandantin nicht eingeordnet werden konnte. Er riet zu einer neurologischen Vorstellung. Im Rahmen eines Telefonates mit der Neurologischen Abteilung wurde eine Übernahme der Patientin für den nächsten Tag vereinbart.

Noch vor Verlegung machten die Ärzte eine kernspintomographische Untersuchung der gesamten Wirbelsäule. Dabei zeigte sich eine Plattwirbelbildung BWK6, mit Vorwölbung der Hinterkante in den Spinalkanal und einer daraus resultierenden hochgradigen spinalen Stenose mit mehreren Frakturen der Brustwirbelkörper, ohne höhergradige Stenosen des Spinalkanals. Nach Verlegung in die Neurochirurgische Abteilung nahmen die Ärzte eine operative Spinalkanaldekompression in Höhe BWK7/8 über eine Hemilaminektomie BWK7 und 8 in mikrochirurgischer Technik vor. Nach der Operation zeigte sich allerdings keine Besserung der Querschnittssymptomatik mehr.

Ich hatte den Ärzten der Klinik vorgeworfen, es grob fehlerhaft unterlassen zu haben, am Aufnahmetag weitergehende neurologische Befunde zu erheben. Wegen der neu aufgetretenen Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen der Beine sowie des Untersuchungsbefundes einer Paraparese der Beine beidseits hätte umgehend eine bildgebende Diagnostik der Wirbelsäule mittels Computertomographie oder MRT erfolgen müssen. Das gelte umso mehr, weil eine korrekte Anamneseerhebung aufgrund der nur sehr eingeschränkten Auskunftsfähigkeit der Mandantin nicht oder nur eingeschränkt möglich gewesen sei.

Es sei grob fehlerhaft gewesen, dass ein neurologischer Handlungsbedarf verneint und die Patientin auf die Internistische Station verlegt worden sei. Die Sensibilitätsstörungen der Beine seien erst unmittelbar vor Aufnahme im Hause der Beklagten aufgetreten. Bei einer sofortigen Durchführung hätten sich sofort die erst zwei Tage später festgestellten Sinterungsfrakturen der BWK6 - 10 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gezeigt. Es hätte eine umgehende neurologische Operation zur Entlastung der entsprechenden Nerven durchgeführt werden müssen.

Das Landgericht Münster (Urteil vom 18.07.2018, AZ: 108 O 52/16) hatte in einem Grund- und Teilurteil bestätigt: Nach Anhörung des Sachverständigen stünde fest, dass der konsiliarisch hinzugezogene Neurologe im Krankenhaus es fehlerhaft unterlassen habe, weitere Befunde zu erheben, insbesondere umgehend eine genaue klinische Untersuchung sowie eine MRT-Untersuchung zu veranlassen. Der Gutachter habe klar und eindeutig bestätigt, dass die klinisch-neurologische Untersuchung bei Aufnahme grob fehlerhaft gewesen sei. Bereits die Einweisungsdiagnose einer unklaren Bewegungs- und Sensibilitätsstörung beider Beine und des Bauches hätte dem untersuchenden Neurologen Anlass geben müssen, die Mandantin auf ein komplettes oder inkomplettes Querschnittssyndrom zu untersuchen.

Schon die Durchführung eines einfachen Testes hätte weiterführende Erkenntnisse im Hinblick auf das Vorliegen eines Querschnittssyndroms erbracht. Es hätte ausgereicht, die Patientin mit einer kleinen Nadel zu pieksen. Der Neurologe hätte feststellen können, ob und an welcher Stelle sie Schmerzäußerungen von sich gegeben hätte und wo nicht. Durch den Test hätte sich der Verdacht auf eine Querschnittssymptomatik erhärtet, es hätten weitere Befunde zwingend erhoben werden müssen.

Der Sachverständige habe den Ärzten weiter vorgeworfen: Bei der Aufnahmeuntersuchung sei fehlerhaft eine kernspintomographische Untersuchung im Bereich der Wirbelsäule und des Spinalkanals unterlassen worden. Neben einer genauen klinisch-neurologischen Befunderhebung hätte es zwingend einer bildgebenden Untersuchung bedurft, um die neurologischen Ausfälle einschätzen zu können. Gerade weil die Patientin aufgrund ihres Hirnschadens nicht in der Lage gewesen sei, nachvollziehbare Angaben zu machen, seien diese Untersuchungen zwingend erforderlich gewesen. Für den Neurologen habe auch nicht festgestanden, seit wann die neurologischen Ausfälle der Beine bereits vorlagen.

Obgleich der Neurologe die für eine Querschnittssymptomatik typischen Symptome erkannt hätte, habe er zur Abklärung keine weiteren Maßnahmen getroffen. Das Unterlassen dieser exakten klinisch-neurologischen Untersuchung sowie das Unterlassen einer MRT-Untersuchung sei grob fehlerhaft und objektiv nicht mehr verständlich. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hatte das Krankenhaus vor dem Oberlandesgericht Hamm (AZ: I-3 U 96/18) zurückgenommen.

Im Rahmen eines außergerichtlichen Vergleiches habe ich mich daraufhin mit der Haftpflichtversicherung des Krankenhauses auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 175.000 Euro geeinigt. Dieser Vergleich wurde vom Amtsgericht als Betreuungsgericht genehmigt (Amtsgericht Ahlen, Beschluss vom 19.08.2020, AZ: 11 XVII 449/92).

Christian Koch, Fachanwalt für Medizinrecht & Verkehrsrecht



Artikel teilen:


Sie haben Fragen? Jetzt Kontakt aufnehmen!

Weitere Rechtstipps von Rechtsanwalt Christian Koch

Beiträge zum Thema