Suizidgefahr als Härtegrund bei Eigenbedarfskündigung, § 574 Abs. 1 BGB

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Rechtmäßige Eigenbedarfskündigung

Die Eigenbedarfskündigung des Vermieters, vorausgesetzt Gründe und Begründung sind rechtskonform erklärt, beendet grundsätzlich das bestehende Mietverhältnis, wobei hierbei die entsprechenden Fristen zu beachten sind. 

Vorgehen bei schweren psychischen Problemen 

Was aber kann ein Mieter tun, der sich selbst aufgrund langanhaltender psychischer Probleme außer Stande sieht, der Räumungsaufforderung nachzukommen und sogar den Selbstmord in Betracht zieht?

Als Rechtsanwalt begegnet einem diese Problematik gottlob nicht allzu oft. Doch wenn die Mietpartei dies im persönlichen Gespräch andeutet, muss dementsprechend gehandelt werden. Insbesondere muss der Kündigung unter Angabe dieser Gründe ausdrücklich widersprochen werden. Doch wie wird eine solche Suizidgefahr in einem meist folgenden Räumungsprozess eingeführt?

Es obliegt wie immer im Zivilverfahren dem Rechtsanwalt, den entsprechenden Vortrag außergerichtlich oder später bei Gericht im Prozess anzubringen. Selbstredend reicht die bloße Behauptung nach dem Motto "...dann bring ich mich um..." nicht aus.

Das hiesige Verfahren

Ich hatte zuletzt ein derartiges Verfahren mit einer Mandantin durchzustehen. Nach Kündigung im Oktober 2019 wurde am 30.08.2021 das Verfahren durch Rücknahme der Berufung durch den Kläger (Vermieter) beendet. Es bedarf also eines langen Atems und eines gewissen Maßes an Einfühlungsvermögen seitens des Rechtsanwalts, der sich stets mit den Sorgen und Nöten des Mandanten auseinandersetzen muss.

Um der suizidgefährdeten Partei den Erhalt der Wohnung zu sichern muss die Selbstmordgefahr jenseits einer bloßen Behauptung durch Vorlage entsprechender Atteste in den Rechtsstreit eingeführt werden. Im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens sodann muss dieser Vortrag ebenso unter Beweis gestellt werden wie die Tatsache, dass sich bestehende Suizidgedanken gerade auf den Räumungsfall beziehen bzw. solche Gedanken durch das Damoklesschwert des Wohnungsentzuges verstärkt werden. Dies geschieht regelmäßig durch psychologische Begutachtung eines Sachverständigen.

Rechtliche Grundsätze 

Das Landgericht München, 23.07.2014, Az.: 14 S 20700/13 hat vertreten, dass die Kündigung von Wohnraum sowie eine nachfolgende Räumungsklage durch den Vermieter nicht zwangsläufig bedeutet, dass das Mietverhältnis beendet ist und der Mieter die Wohnung tatsächlich verlassen muss. Selbst wenn der Vermieter in seiner Kündigung nachvollziehbare Eigenbedarfsgründe gegenüber dem Mieter geltend macht, kann eine Fortsetzung des Mietverhältnisses aufgrund der persönlichen Situation des Mieters gefordert werden. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Mieter oder eine andere in der Wohnung lebende Person wegen der Räumung Lebens- oder Gesundheitsgefahr drohen würde, z. B. bei Suizidgefahr. Kommt das Gericht in derartigen Fällen zu der Überzeugung, dass durch die Räumung eine sittenwidrige Härte, v. a. eine Gefahr für Leib, Leben oder Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) entsteht, so hat es in seiner Entscheidung eine Abwägung des Mieterinteresses am Behalt der Wohnung mit dem Interesse des Vermieters, seine grundrechtlich geschützte Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) durchzusetzen, durchzuführen.

Streitentscheidend ist letztlich stets die Frage, ob die Voraussetzungen des § 574 Abs. 1 BGB zu bejahen sind. Davon muss ausgegangen werden, wenn für die Mietpartei die Beendigung des Mietverhältnisses auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters eine unzumutbare Härte bedeuten würde (§ 574 Abs. 1 BGB). Ob die Beendigung des Mietverhältnisses eine nicht zu rechtfertigende Härte in diesem Sinne bedeutet, ist abhängig von einer Interessenabwägung, bei der die Interessen des Vermieters und Mieters gleichwertig zu berücksichtigen sind (Weidenkaff, in: Palandt, 80. Aufl. 2021, § 574 Rn. 8).

Abwägungskriterien

Eine nicht zu rechtfertigende Härte liegt nur dann vor, wenn sie sich deutlich von den üblichen Unannehmlichkeiten eines Wohnungswechsels abhebt (a.a.O.). Nach der Rechtsprechung des BGH haben die Gerichte den Entschluss des Vermieters, die vermietete Wohnung nunmehr selbst zu nutzen oder durch den Kreis privilegierter Dritten nutzen zu lassen, grundsätzlich zu achten und grundsätzlich die Entscheidung des Vermieters, welchen Wohnbedarf er für sich oder seine Angehörigen als angemessen ansieht, zu respektieren (BGH NJW 2017, 1474). Demgegenüber ist auf Seiten einer beklagten Mietpartei zu berücksichtigen, falls diese bereits seit Jahren unter Depressionen leidet. Besteht eine ernsthafte Gefahr der erheblichen Verschlechterung einer schweren Erkrankung, kann darin eine besondere Härte im Sinne des § 574 BGB zu sehen sein (Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 80. Aufl. 2021, § 574 Rn. 9 m.w.N.). Insoweit ist das Sachverständigengutachten heranzuziehen. Ergibt dieses (neben der behaupteten Diagnose) eine Verschlechterung des Zustandes seit Zugang der Kündigung, muss das befasste Gericht bei entsprechender Würdigung den Räumungsanspruch entfallen lassen. Ist ein Mieter wegen einer Krankheit an der Räumung gehindert, so stellt auch dieser Umstand einen Härtegrund dar. Dies gilt sowohl für körperliche als auch für geistige oder seelische Erkrankungen (Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, BGB § 574 Rn. 47). Es ist nicht erforderlich, dass die Beeinträchtigung der Gesundheit mit Sicherheit eintritt. Vielmehr kann „bereits die ernsthafte Gefahr einer erheblichen gesundheitlichen Verschlechterung die Annahme einer unzumutbaren Härte rechtfertigen‟ (Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, BGB § 574 Rn. 47 m.w.N.). Auf eine konkrete Suizidgefahr z.B. in Form eines Versuchs kommt es folglich nicht an.

Der BGH hat wegweisend zur vorliegenden Problematik ausgeführt, dass nicht nur sichere Folgen einer Räumung zu berücksichtigen sind, sondern bereits die sachverständigenseits bejahte, ernsthafte Gefahr einer erheblichen gesundheitlichen Verschlechterung die Annahme einer unzumutbaren Härte rechtfertigen kann (BGH VIII ZR 57/13, Rn. 20). Unangemessen hohe Anforderungen an das Vorliegen einer unzumutbaren Härte dürfen gerade nicht gestellt werden. In diesem Zusammenhang ist zu sehen, dass nach der Rechtsprechung des BGH selbst eine unterbliebene therapeutische Begleitung in der Abwägung unberücksichtigt bleiben könnte, wenn dem Betroffenen (wie im Fall des BGH) das Vertrauen zu einem Therapeuten fehlt. Keinesfalls kann ein Betroffener ohne weiteres darauf verwiesen werden, dass ein Umzug mit entsprechender therapeutischer Begleitung bewerkstelligt werden könne (BGH VIII ZR 57/13).

In die vorzunehmende Abwägung ist auf Seiten des Klägers und Vermieters insbesondere die Dringlichkeit des Wohnungsbedarfs mit einzubeziehen. Dies gilt auch für nahe Verwandte (Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 80. Aufl. 2021, § 574 Rn. 11). Die potentiellen körperlichen Folgen für die Mietpartei aufgrund ihrer Erkrankung, selbst verbunden mit den ungewissen Erfolgsaussichten einer besonders stark in das Selbstbestimmungsrecht der Beklagten eingreifenden psychiatrischen Behandlung, führen bei Abwägung der gegenläufigen Interessen dazu, dass ein gerichtlich erzwungener Wohnungswechsel der Mietpartei nicht zugemutet werden kann (vgl. beispielgebend AG Schöneberg, Urt. v. 09.04.2014, Az.: 12 C 340/12). Dies umso mehr, falls dem Vermieter offensichtlich keinerlei existenzbedrohende Umstände entstünden oder der vom Eigenbedarf Begünstigte in irgendeiner Weise über Gebühr belastet würde.

Abwägungsentscheidung 

Das Landgericht Passau, Hinweisbeschluss vom 13.08.2021, Az. 3 S 11/21, hat obige Grundsätze im Rahmen der eingelegten Berufung des Vermieters ausführlich gewürdigt und die Zurückweisung angekündigt. Entscheidend war neben der Vorerkrankung der Beklagten ein sachgleicher Suizid der Schwester, eine nachweisbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes nach Zugang der Kündigung sowie die Feststellungen des Sachverständigen, dass Suizidgedanken auf jeden Fall nicht vorgeschoben und ein Selbstmord nicht ausschließbar sei. Ausdrücklich wurde seitens des Gerichts der klägerische Vorhalt nicht ausreichender Suche nach Ersatzwohnraum als unzutreffend, da auf den Fall der unzumutbaren Härte aus gesundheitlichen Gründen nicht anwendbar, zurückgewiesen. Das Landgericht führt insoweit aus: „Ferner stellt der Umstand, dass die Beklagte sich aus Sicht des Klägers nicht ausreichend um Ersatzwohnraum bemüht hat dieser Beurteilung nicht entgegen. Die Pflicht des Klägers, sich ab Kündigung um angemessenen Ersatzwohnraum zu bemühen, betrifft den Fall, dass eine besondere Härte im Sinne des § 574 Abs. 2 BGB angenommen wird, nämlich dann, wenn angemessener Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen nicht beschafft werden kann und dem Mieter der Auszug aus der Wohnung deshalb nicht zugemutet werden kann. Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall. Vielmehr würde der erzwungene Auszug aus der streitgegenständlichen Wohnung zu einer erheblichen Verschlechterung der psychischen Erkrankung der Beklagten führen, worin eine besondere Härte zu erblicken ist, die der Beklagten den Auszug aus der Wohnung unmöglich macht. Wenn ihr aber aus gesundheitlichen Gründen der Auszug aus der Wohnung unmöglich ist, kann ihr umgekehrt nicht angelastet werden, dass sie sich nicht um Ersatzwohnraum bemüht hat. Hier ist insbesondere zu sehen, dass der Sachverständige die drohende gesundheitliche Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin an dem erzwungenen Umzug festmacht . Weil eine Gesundheitsverschlechterung durch den unfreiwilligen Auszug aus der Wohnung droht, kann der Umstand, dass sich die Beklagte – was vorliegend offenbleiben kann – möglicherweise nur eingeschränkt um Ersatzwohnraum bemüht hat nicht dazu führen, dass ein überwiegendes Interesse des Klägers anzunehmen wäre, seine Wohnung seinem Sohn zur Verfügung zu stellen.“

Fazit

Letztlich gilt wie so oft: die zu treffende Entscheidung kann in Abwägungsfällen immer nur eine Einzelfallentscheidung sein. Die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen aber, dass das Gericht ausreichend Tatsachen zur Abwägung heranziehen kann, muss der Rechtsanwalt durch gezielten Vortrag schaffen. Für die (gerichtliche) Einführung dieses Vortrages stehe ich mit meiner einschlägigen Erfahrung zur Verfügung. 


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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