Trotz „Stechuhr-Urteil“ – Überstunden muss nach wie vor der Arbeitnehmer nachweisen!

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Trotz „Stechuhr-Urteil“ zur Arbeitszeiterfassung – Überstunden muss nach wie vor der Arbeitnehmer nachweisen!

Der Europäische Gerichtshof und das Bundesarbeitsgericht sind sich einig: Zukünftig müssen Arbeitgeber verpflichtend ein System zur Erfassung der geleisteten Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer einführen.

Trotzdem bleibt es dabei, dass der Arbeitnehmer das Vorliegen und die Anzahl von Überstunden nachweisen muss, wenn er hierfür eine Abgeltung fordern will. Das hat das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2022, Az. 5 AZR 359/21, entschieden.

Die Rechtsprechung zur Arbeitszeiterfassung: EuGH und BAG entscheiden pro „Stechuhr“

Im Mai 2019 gab es einen regelrechten Paukenschlag vom Europäischen Gerichtshof: EU-Unternehmen müssen zukünftig alle Arbeitsstunden ihrer Mitarbeiter aufzeichnen. Das übersteigt die bisherigen Aufzeichnungspflichten in Deutschland bei Weitem: Bisher mussten nach dem Arbeitszeitgesetz lediglich Überstunden erfasst werden. Stundenzettel waren bisher nur in Schwarzarbeit-anfälligen Wirtschaftszweigen, wie im Bau- oder Gaststättengewerbe, verpflichtend. Zukünftig soll die Zeiterfassung jeder Arbeitsstunde jedoch für alle Unternehmen gelten.

Diese als „Stechuhr-Urteil“ bekannt gewordene Entscheidung ist zwar noch nicht vom deutschen Gesetzgeber umgesetzt worden. Das BAG hat jedoch mit Urteil vom 13. September 2022 nochmals die Pflicht zur Einführung eines Zeiterfassungssystems bestätigt. Viele Diskussionen sind daraufhin neu entflammt: Wird das das Ende der Vertrauensarbeitszeit sein? Wird Home-Office oder Mobiles Arbeiten unter diesen Umständen überhaupt noch praktikabel durchführbar sein? Beschwichtigende Stimmen betonen, dass lediglich eine Dokumentationspflicht hinzukomme. Neben vielerlei Unsicherheiten gibt es jedoch zumindest in einer Frage Gewissheit: Das „Stechuhr-Urteil“ ändert nichts daran, dass die Beweislast für geleistete Überstunden in erster Linie beim Arbeitnehmer liegt.

Den Nachweis für Überstunden muss der Arbeitnehmer erbringen

Wenn so viele Überstunden auflaufen, dass Arbeitszeit und reguläres Gehalt nicht mehr in Einklang stehen, stellt sich im laufenden oder beendeten Arbeitsverhältnis die Frage nach Abgeltung. Im vom BAG entschiedenen Fall stritt ein Auslieferungsfahrer mit seinem ehemaligen Arbeitgeber um die Abgeltung von – so hatte der Fahrer errechnet –   429 Überstunden.

In erster Instanz kam das Arbeitsgericht auf die Idee, die „Stechuhr-Rechtsprechung“ in seine Überlegung einfließen zu lassen. Der Gedanke: Wenn ein Arbeitgeber nach der Rechtsprechung des EuGH ohnehin verpflichtet ist, jede Arbeitsstunde aufzuzeichnen, so kann er hinterher nicht mehr bestreiten, dass er die Überstunden auch gekannt und geduldet hat. Denn ihm ist ja jederzeit ein Blick in die eigenen Aufzeichnungen möglich. Der Arbeitnehmer muss also nicht mehr beweisen, dass und wie viele Überstunden vom Arbeitgeber veranlasst waren. Dieses Urteil sorgte für Aufsehen, denn es kam einer sog. Beweislastumkehr gleich. Bisher war nämlich der Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig für jede konkrete Überstunde. Erst dann musste der Arbeitgeber vortragen, ob und warum er von weniger Überstunden ausgeht.

Das Landesarbeitsgericht und das Bundesarbeitsgericht haben dieser Beweislastumkehr eine Absage erteilt. Erstens bestehe derzeit noch keine Pflicht zur Zeiterfassung, weil das EuGH-Urteil nur die EU-Staaten bindet und nicht ein Unternehmen. Zweitens habe der EuGH die Pflicht zur Zeiterfassung auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes festgestellt, um die Gesundheit der Arbeitnehmer durch Einhaltung von Höchstarbeitszeiten zu schützen. Dem Auslieferungsfahrer sei es aber nicht um Arbeitsschutz- sondern um Vergütungsfragen gegangen. Hierfür habe der EuGH keine Kompetenz. Daher habe das Stechuhr-Urteil des EuGH keinerlei Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess. Das gelte jedenfalls dann, wenn es um die Frage der arbeitgeberseitigen Veranlassung –  also der Anordnung, Duldung, Billigung und Notwendigkeit – der Überstunden geht. Diese zu beweisen, gelang dem Auslieferungsfahrer im entschiedenen Fall nicht.

Auswirkungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Arbeitgeber müssen nach diesem Urteil zwar keine Klagewelle von Überstundenabgeltung mehr fürchten. Sie sind aber dennoch gut beraten, sich spätestens jetzt über die Einführung eines Zeiterfassungssystems zu informieren. Denn nach der kürzlichen Bekräftigung der Aufzeichnungspflicht durch das BAG und dem steigenden Druck auf den Gesetzgeber, das EuGH-Urteil umzusetzen, wird die sprichwörtliche Stechuhr unweigerlich kommen.

Arbeitnehmer, die regelmäßig Überstunden leisten, sollten diese weiterhin dokumentieren. Weder das EuGH-Urteil, noch die zukünftige Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung entbinden den Arbeitnehmer von der Beweislast für jede einzelne Überstunde. Für den Fall einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber sollte daher eine schriftliche Dokumentation der Überstunden, am besten mit Beschreibung der geleisteten Aufgaben und Anordnung oder Duldung durch den Arbeitgeber.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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