Arzthaftung - Tod des Patienten - Schmerzensgeld - Genugtuungsfunktion

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Vereinfachter Ausgangsfall: Der Ehemann der Klägerin wurde notfallmäßig in das von der Beklagten betriebene Krankenhaus eingeliefert, wo er infolge einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung verstarb. Mit ihrer Klage nimmt die Klägerin als Erbin ihres Ehemannes die Beklagte aus übergegangenem Recht u. a. auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Anspruch.

In seinem Urteil vom 08.02.2022 (VI ZR 409/19, NJW 2022, S. 1443) setzt sich der Bundesgerichtshof mit der Frage auseinander, ob und in welcher Höhe der Klägerin ein Schmerzensgeldanspruch zuzuerkennen ist. Das Urteil stellt zusammengefasst u.a. die folgenden Grundsätze heraus:

1-

Grundsätzlich ergibt sich ein nach § 1922 BGB im Wege der erbrechtlichen Gesamtrechtsnachfolge auf die Klägerin übergegangener Anspruch des verstorbenen Ehemannes auf Schmerzensgeldzahlung aus §§ 280 Abs. 1 S. 1, 253 Abs. 2 BGB wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und der darin liegenden Verletzung der Pflichten aus dem Behandlungsvertrag.

2,

Der zunächst in der Person des Ehemannes entstandene Schmerzensgeldanspruch scheidet nicht schon deshalb aus, weil der Ehemann der Klägerin infolge des Behandlungsfehlers bereits einen Tag später verstorben ist. Zwar sieht § 253 Abs. 2 BGB nach der grundsätzlichen Wertung des Gesetzgebers weder für den Tod noch für die Verkürzung des Lebenserwartung eine Entschädigung in Geld vor. Im vorliegenden Fall liegt der Sachverhalt aber insoweit anders, als der verstorbene Patient die durch den Behandlungsfehler eingetretene Verschlechterung seines Zustandes teilweise noch selbst miterlebt hat. Deshalb sind die durch den Behandlungsfehler eingetretenen gesundheitlichen Folgen als eine von dem nachfolgenden Tod abgrenzbare immaterielle Beeinträchtigung anzusehen, die einen Ausgleich in Geld nach Billigkeitsgrundsätzen erforderlich macht.

3.

Grundsätzlich sind bei der Bemessung eines Schmerzensgelds im Rahmen des § 253 Abs. 2 BGB die Ausgleichsfunktion (Ausgleich für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind) und die Genugtuungsfunktion (Genugtuung für das, was der Schädiger dem Geschädigten angetan hat) zu berücksichtigen. Auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen kann der letztgenannte Gesichtspunkt der Genugtuung nicht grundsätzlich außer Betracht bleiben. Auch wenn bei der ärztlichen Behandlung das Bestreben der Behandlungsseite im Vordergrund steht, dem Patienten zu helfen und ihn von seinen Beschwerden zu befreien, stellt es unter dem Blickpunkt der Billigkeit einen wesentlichen Unterschied dar, ob dem Arzt grobes – möglicherweise die Grenze zum bedingten Vorsatz berührendes – Verschulden zur Last fällt oder ob ihn nur ein geringfügiger Schuldvorwurf trifft. Ein dem Arzt aufgrund grober Fahrlässigkeit unterlaufener Behandlungsfehler kann dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben.

4.

Eine grobe Fahrlässigkeit ist allerdings nicht bereits dann zu bejahen, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler im Sinne es objektiv groben Pflichtenvertoßes unterlaufen ist. Ein in objektiver Hinsicht grober Behandlungsfehler, wie er insbesondere für die Frage der Beweislastumkehr in Arzthaftungssachen von Bedeutung sein kann, ist weder mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen noch kommt ihm insoweit eine Indizwirkung zu. Vielmehr kommt es im Rahmen der Genugtuungsfunktion auf die subjektive personale Seite der Verantwortlichkeit des Behandelnden an. Wörtlich führt der Bundesgerichtshof diesbezüglich aus:

"Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes persönliches Verschulden. Vielmehr ist ein solcher Vorwurf nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 II BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (stRspr; vgl. Senat NJW-RR 2017, 146 = VersR 2016, 1464 Rn. 19; NJW 2009, 1482 = VersR 2009, 558 Rn. 34). Damit sind auch Umstände zu berücksichtigen, die die subjektive, personale Seite der Verantwortlichkeit betreffen, und konkrete Feststellungen nicht nur zur objektiven Schwere der Pflichtwidrigkeit, sondern auch zur subjektiven Seite zu treffen (vgl. Senat NJW-RR 2017, 146 = VersR 2016, 1464 Rn. 19; NJW-RR 2011, 1055 = VersR 2011, 916 Rn. 10; G. Müller VersR 1993, 909 (915)). Demgegenüber kommt es für die Frage, ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt, der zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Ursächlichkeit dieses Fehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen kann, auf den Grad subjektiver Vorwerfbarkeit gegenüber dem Arzt nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob dem Arzt ein Fehler unterlaufen ist, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Maßgeblich ist damit nur, ob das ärztliche Verhalten eindeutig gegen gesicherte und bewährte medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen verstieß (vgl. Senat BGHZ 159, 48 = NJW 2004, 2011; NJW 1992, 754 = VersR 1992, 238; NJW 2011, 3442 = VersR 2011, 1569 Rn. 10, 12). Denn die Annahme einer Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler ist keine Sanktion für ein besonders schweres Arztverschulden. Sie hat ihren Grund vielmehr darin, dass das Spektrum der für den Misserfolg der ärztlichen Behandlung in Betracht kommenden Ursachen gerade wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderem Maße verbreitert und die Aufklärung des Behandlungsgeschehens deshalb in besonderer Weise erschwert worden ist, so dass der Arzt dem Patienten den Kausalitätsbeweis nach Treu und Glauben nicht zumuten kann (vgl. Senat BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767 Rn. 25; NJW 2011, 3442 = VersR 2011, 1569 Rn. 12; NJW 2012, 2653 = VersR 2012, 1176 Rn. 13; MedR 2021, 647 Rn. 16)."

Fazit:

Aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs folgt, dass aus anwaltlicher Sicht bei der Begründung von Schmerzensgeldforderungen nicht nur auf den objektiv groben Pflichtenvertoß zurückgegriffen werden darf, sondern der für eine erfolgreiche Schmerzensgeldklage erforderliche Parteivortrag auch diejenigen Umstände zu berücksichtigen hat, die für die Beurteilung und Bejahung eines in subjektiver Hinsicht groben Verschuldens des behandelnden Arztes von Bedeutung sind. Ob der Anwalt selbst die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Differenzierung für rechtlich dogmatisch zutreffend oder aber überzogen hält, dürfte für die Praxis nicht von Bedeutung sein. Der Anwalt ist verpflichtet, für die Mandantschaft den sichersten Weg zu wählen. Er kommt deshalb nicht daran vorbei, die vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätze zu beachten. Anderenfalls besteht für ihn ein Haftungsrisiko.



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