Fluchtgefahr von EU-Bürger wegen „nur“ gefestigter sozialer Kontakte im Heimatland ? AEUV vs. StPO

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Unsere globale Welt wächst weiter zusammen, seitdem der eiserne Vorhang gefallen ist.

Die Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind aufgehoben. Für die im Strafrecht immer kontradiktorisch zueinander stehenden Rechtsgüter Freiheit und Sicherheit blieb dieser Wandel gesetzgeberisch und in der Richterpraxis nicht folgenlos.

Wird gegen einen EU-Inländer, aber „deutschen Ausländer“ Untersuchungshaft angeordnet, etwa weil er „nur“ einen festen Wohnsitz und berufliche und familiäre Bindungen im Ausland, nicht aber in Deutschland hat, treten Fragen auf, welche dieser kleine Beitrag helfen soll zu lösen.

Denn strafrechtlich kann obiges häufiges Szenario zu Problemen führen, wenn sich bei Gericht oder dem Ermittlungsrichter einerseits gegenüber stehen der nationale Strafrechtsanspruch eines Mitgliedsstaates (bei uns in der BRD verankert im sog. Tatortprinzip § 7 StGB „Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Inland begangen werden“) und andererseits das fortentwickelte Europarecht, deren tragende Säulen u. a. das Diskriminierungsverbot zwischen EU In- und Ausländern und die EU-Freizügigkeit sind.

Da es in Europa (noch) kein einheitliches Strafrecht gibt, gerät das nationale Prozessrecht mit dem materiellen supranationalen Recht in Konflikt. In der Praxis heißt das oft:

Wenn ich als Strafverteidiger in einer Haftsache von Familie oder Freunden beauftragt werde, den Mandanten aus der U-Haft „rauszuholen“, werde ich auftragsgemäß nach §§ 117 ff. StPO Haftprüfung beantragen und im Falle des Ausbleibens des erwünschten Erfolges (Haftverschonung gegen Meldeauflage oder Kaution oder Aufhebung des Haftbefehls) Haftbeschwerde zum höheren Gericht hiergegen erheben, § 304 StPO.

Sollte ein Ermittlungsrichter oder ein Tatsachengericht seine prognostische Annahme eines Haftgrundes der Fluchtgefahr seitens eines Beschuldigten nur auf das Fehlen gefestigter Verhältnisse (etwa Wohnanschrift, Arbeitsstelle, Familie) stützen, etwa weil nur diese in Deutschland von herausgehobener Bedeutung sind, steht dies nicht im Einklang mit europarechtlichen Vorschriften und verstößt gegen geltendes Recht:

Denn Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und ehemals Artikel 12 EGV verbietet jegliche Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in seinem Anwendungsbereich.

Es widerspricht daher grundsätzlich den Zielen des Vertrags, wenn innerhalb eines Mitgliedsstaates eine unterschiedliche Behandlung von Inländern und EU-Ausländern besteht.

Hieraus folgt, dass jeder EU-Bürger in jedem Mitgliedsstaat prinzipiell so behandelt werden muss wie ein Inlandbürger. Es ist daher ständige Rechtsprechung des EuGHs, dass in Art. 18 AEUV nicht nur unmittelbare Diskriminierungen, d. h. solche Regelungen, die explizit an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, erfasst, sondern auch das Abstellen auf den Wohnsitz oder Meldeverhältnisse typischerweise mittelbare Diskriminierungsverbot entfaltet, da sich dies zwangsläufig zum Nachteil des EU-Ausländers auswirkt.

Das Anknüpfen eines Gerichts an die „Ausländereigenschaft“ bzw. den Wohnsitz im Ausland als Indiz für eine Fluchtgefahr im Sinne des § 112 II Nr. 2 StPO führt aber zu einer tatsächlichen Benachteiligung von EU-Bürgern. 

Darüber hinaus gewährt Art. 21 AEUV (ex Art. 18 EGV) das Recht auf Freizügigkeit, dass als spezielle Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes gilt.

Das Recht auf Freizügigkeit umfasst dabei nicht nur die Befugnis, sich im gesamten Gemeinschaftsraum frei zu bewegen und aufzuhalten, sondern begründet für den EU-Bürger, der sich in einem anderen Gemeinschaftsstaat befindet, den Anspruch auf vollständige Gleichbehandlung gegenüber Inländern.

Da ein solcher Anspruch unabhängig von jeglicher wirtschaftlicher Betätigung ist, gewährt er dem Unionsbürger einen umfassenden Schutz aufgrund der Ausübung seiner Freizügigkeit Benachteiligungen zu erfahren. Eingriffe in den Schutzbereich von Art. 18, 21 AEUV sind aber nur in engen Grenzen zulässig. Aus dem Diskriminierungsverbot folgt für EU-Ausländer, dass der Wohnsitz in einem anderen Unionsstaat Fluchtgefahr nicht begründen kann.

Gegen eine Fluchtgefahr kann dann immer auch europarechtlich zu Felde geführt werden, dass die europarechtlichen Mitgliedsstaaten aufgrund gegenseitiger Zusicherung zur Aus- und Durchlieferung auch zum Zwecke der Strafvollstreckung unproblematisch durchgesetzt werden kann, sofern keine Auslieferungshindernisse ersichtlich sind (Europäischer Haftbefehl).

Es sollte daher bei Haftfragen in der BRD der Strafverteidiger immer die europarechtliche Rechtslage bekannt sein und die entsprechenden Entscheidungen dem Gericht vorgelegen, damit im Sinne der Freiheit entschieden werden kann. Hilfsweise muss das nächsthöhere Gericht die europarechtlichen Vorgaben berücksichtigen, nachdem anwaltlich Beschwerde dorthin erhoben wurde.

Daniel Lehnert

RA und FAStR in Berlin



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