Inklusion vor Gericht: Sind Geschäftsunfähigkeitsregeln diskriminierend?

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Neuer Blick auf Geschäftsunfähigkeit von Volljährigen

Im Mai 2023 fand in Berlin eine wegweisende Frühjahrskonferenz der Justizminister der Länder mit Nordrhein-Westfalen als Berichterstatter statt, bei der das deutsche Geschäftsfähigkeitsrecht im Fokus stand. Der Beschluss TOP I.4, thematisierte die Zulassung rechtsgeschäftlichen Handelns bei geschäftsunfähigen Volljährigen. Diese Regelungen, die praktisch die eigenständige rechtliche Handlung für diese Gruppe ausschließen, wurden im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention diskutiert. Die Konferenz appellierte an den Bundesminister der Justiz, Möglichkeiten zur Verbesserung dieser Situation zu prüfen, um den Schutzbedarf und die Selbstbestimmung in Einklang zu bringen.

Die kontinuierliche Entwicklung der Rechtslandschaft in Deutschland, die die Würde und Autonomie von Menschen mit Behinderungen schützt, steht im Einklang mit der Einführung des Betreuungsrechts im Jahr 1992 und der Reform im Jahr 2023. Dennoch wirft die fortdauernde Geltung der §§ 104 und 105 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) Fragen hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit den Prinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf. In diesem Artikel untersuchen wir die Konflikte zwischen den bestehenden Regelungen zur Geschäftsunfähigkeit und den Standards der UN-BRK, die auf die Förderung der Selbstbestimmung und Rechtsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen abzielt.

Balance zwischen Betreuungsrecht und Geschäftsunfähigkeit

Die Reformen des Betreuungsrechts von 1992 und 2023 markieren einen bedeutenden Schritt in Richtung inklusiverer Rechtsstrukturen. Doch trotz dieser Fortschritte sind die §§ 104 und 105 BGB nach wie vor in Kraft, die besagen, dass Personen, die aufgrund "krankhafter Störung der Geistestätigkeit" ihre Willensfreiheit verlieren, als geschäftsunfähig gelten. Diese Feststellung führt dazu, dass ihre Willenserklärungen nach § 105 Abs. 1 BGB als nichtig betrachtet werden. In einer Zeit, in der Inklusion und Gleichberechtigung zunehmend an Bedeutung gewinnen, stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit dieser Regelungen mit modernen rechtsstaatlichen Prinzipien.

Kritik am Status Quo: Der diskriminierende Effekt

Ein kritischer Blick auf den Wortlaut von § 104 Nr. 2 BGB zeigt, dass dieser gegebenenfalls Menschen mit geistigen Behinderungen wie dem Down-Syndrom oder Autismus einschließt. Diese Interpretation könnte als diskriminierend angesehen werden und könnte im Widerspruch zu Artikel 5 Absatz 2 der UN-BRK stehen, der Diskriminierung verbietet und gleiche Anerkennung vor dem Gesetz sicherstellen soll. Die einseitige Betonung der Geisteskrankheit könnte Menschen mit Behinderungen ungerechtfertigt aus dem Rechtsverkehr ausschließen.

Betreuungsrecht in der Praxis: Chancen und Grenzen für Selbstbestimmung

Die Behauptung, dass die Normen der §§ 104 und 105 BGB durch das Betreuungsrecht obsolet geworden seien, erweist sich als unzutreffend. Ein bestellter Betreuer beeinflusst nicht automatisch die Geschäftsfähigkeit der betreuten Person. Gemäß dem Betreuungsrecht behält der Betreute die Befugnis, auch in Angelegenheiten, die unter die Zuständigkeit des Betreuers fallen, rechtsverbindliche Willenserklärungen abzugeben. Dennoch bleibt die natürliche Geschäftsunfähigkeit gemäß §§ 104 Nr. 2 und 105 Abs. 1 BGB bestehen, was zu einem Spannungsfeld führt.

Schutz vs. Selbstbestimmung: Das Dilemma der Geschäftsunfähigkeit

Die Einstufung von Menschen mit geistigen Behinderungen als "krankhafte Störung der Geistestätigkeit" gemäß § 104 Nr. 2 BGB wirft Fragen auf. Die Formulierung dieser Regelungen beschränkt sich nicht auf den Schutz geschäftsunfähiger Individuen, sondern betrifft generell alle Willenserklärungen von Geschäftsunfähigen. Dies könnte zu Situationen führen, in denen die Rechte geschäftsunfähiger Menschen unnötig beeinträchtigt werden, obwohl sie vernünftige Entscheidungen treffen könnten.

Menschenrechte in der Praxis: Passen Gesetze und Wirklichkeit zusammen?

Artikel 12 der UN-BRK betont das Recht von Menschen mit Behinderungen auf rechtliche Handlungsfähigkeit und die Anerkennung vor dem Gesetz. Hierbei stellt sich die Frage, ob die Regelungen der §§ 104 und 105 BGB diesen Anforderungen gerecht werden. Eine kritische Bewertung ihrer Vereinbarkeit mit der UN-BRK zeigt, dass die derzeitige Praxis der Geschäftsunfähigkeit möglicherweise nicht im Einklang mit den internationalen Standards steht.

Fazit: Ein Paradigmenwechsel für inklusive Rechtsfähigkeit

Die Normen der §§ 104 ff. BGB werfen einen Schatten auf die Bemühungen um Inklusion und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen. Die Diskrepanz zwischen Geschäftsunfähigkeitsregelungen und den Ansprüchen der UN-BRK fordert eine kritische Überprüfung und möglicherweise eine Anpassung der bestehenden Gesetze. Ein inklusiver Ansatz zur Rechtsfähigkeit, der die Bedürfnisse und Potenziale von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt, sollte das Ziel sein, um eine gerechtere und inklusivere Rechtslandschaft zu schaffen.

Rechtsanwalt Peter R. Schulz: "Trotz der fortschrittlichen Reformen des Betreuungsrechts von 1992 und 2023 bleiben die §§ 104 und 105 BGB, die Personen mit "krankhafter Störung der Geistestätigkeit" als geschäftsunfähig klassifizieren, wirksam. Diese Regelung wirft angesichts der wachsenden Bedeutung von Inklusion und Gleichberechtigung die Frage nach der Übereinstimmung mit modernen rechtsstaatlichen Prinzipien auf."

Foto(s): ASRA

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