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Jugendkriminalität: Strafe oder Erziehung?

  • 6 Minuten Lesezeit
Esther Wellhöfer anwalt.de-Redaktion

Immer wieder gelangen Fälle brutaler Jugendkriminalität an die Öffentlichkeit, zuletzt machten die U-Bahn-Schläger Schlagzeilen. Die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2007 verzeichnet einen Anstieg der Gewaltkriminalität bei Jugendlichen um 4,9 %. Doch während Medien und Politik immer wieder nach schärferen Sanktionen rufen, schlagen Praktiker und Wissenschaftler eher soziale und erzieherische Maßnahmen vor. Die Redaktion von anwalt.de gibt einen Überblick, welche Möglichkeiten das Jugendstrafrecht bietet, und schildert, welche Rezepte die Politik für die Verbesserung der Lage hat und was Jugendrichter, Jugendstaatsanwälte und Rechtswissenschaftler von diesen Reformvorschlägen halten.

[image] Jugendstrafrecht: Der Täter steht im Vordergrund

Das Strafgesetzbuch und das Jugendstrafgesetzbuch bestimmen, dass ein Kind oder Jugendlicher erst ab dem vollendeten 14. Lebensjahr strafmündig ist. Für jüngere „Straftäter" kann nur ein Vormundschaftsrichter erzieherische Maßnahmen anordnen. Für Heranwachsende (18 - 21 Jahre) kann das Gericht wahlweise Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anwenden, je nachdem wie reif und erwachsen der Täter bereits ist.

Das Jugendstrafrecht gibt Jugendrichtern und Jugendstaatsanwälten bereits zahlreiche Möglichkeiten zur Hand, wie sie Straftaten Jugendlicher angemessen sanktionieren können. Dabei steht der Erziehungsgedanke im Vordergrund. Schließlich handelt es sich um junge Menschen, die sich noch in der Entwicklung befinden. Sie können am ehesten vor dem Rückfall durch unterstützende, sozialpädagogische Maßnahmen bewahrt werden. Bereits das Erwachsenenstrafrecht orientiert sich für die Strafe individuell am Täter und seiner Schuld für die begangene Tat. Das Jugendstrafrecht geht jedoch noch weiter, indem es die Sanktionen vor allem von der Einsichtsfähigkeit des jungen Delinquenten abhängig macht. Entscheidend ist sein Reife- und Entwicklungszustand zum Zeitpunkt, an dem er die Tat begangen hat. Es wird diejenige Strafe verhängt, die beim jeweiligen Täter den größten Erziehungseffekt verspricht.

Hinweis: Besonders ist auch die Rolle der Erziehungsberechtigten. Sie haben ein Kontaktrecht und sind in das Jugendstrafverfahren eingebunden, stehen dem jugendlichen Angeklagten zur Seite und sind sogar berechtigt, selbst Anträge zu stellen und vor Gericht gehört zu werden.

 
Flexible Reaktionsmöglichkeiten

Das Jugendgerichtsgesetz sieht für Jugendliche daher drei verschiedene Arten von Sanktionen vor: Erziehungsmaßregeln, z.B. Weisungen zur Teilnahme an einem Antiaggressionskurs, Arbeitsanweisungen und der sogenannte Täter-Opfer-Ausgleich, dienen ausschließlich zur Erziehung. Die Zuchtmittel hingegen haben nicht nur erzieherischen Charakter, sondern sollen zugleich auch die Straftat ahnden. Hierunter fallen beispielsweise Arbeitsauflagen, Schadenswiedergutmachung, Geldauflagen und Jugendarrest. Die dritte und härteste Sanktionsart ist die Jugendstrafe. Als echte Freiheitsstrafe darf der Richter sie nur als allerletztes Sanktionsmittel zum Schutz der Allgemeinheit anordnen, wenn der Täter schädliche Neigungen aufweist oder wegen besonderer Schwere der Schuld. Auch sie ist nach der erzieherischen Notwendigkeit und der Täterpersönlichkeit zu bemessen. Für Vergehen kann eine Jugendstrafe bei Jugendlichen (14- bis 18-Jährige) von 6 Monaten bis zu 5 Jahren verhängt werden; für Verbrechen eine Höchststrafe von 10 Jahren. Bei Heranwachsenden (18- bis 21-Jährige), die nach Jugendstrafrecht behandelt werden, kommt sowohl bei Verbrechen als auch bei Vergehen eine Höchststrafe von 10 Jahren in Betracht.

Exkurs zum Jugendstrafvollzug: Die Jugendstrafe wird in speziellen Jungendstrafanstalten vollzogen. Grundsatz des Jugendstrafvollzugs ist, dass die Jugendstrafanstalten räumlich und institutionell von den Haftanstalten der Erwachsenen getrennt sind, um so jeden Kontakt zu erwachsenen Tätern zu verhindern. Auch die dortigen Vollzugsbeamten müssen speziell für die Betreuung der Jugendlichen geschult sein. Die Strafe wird unter psychologischer Beteiligung und Leitung durch Sozialarbeiter in sogenannten Erziehungsgruppen abgeleistet. Neben Arbeit, Sport und Ausbildung können jugendliche Straftäter weitere Angebote nutzen, etwa Antiaggressions- und Drogenentzugsprogramme und andere Trainingskurse.

Schärfere Sanktionen?

In der Öffentlichkeit herrscht häufig das Vorurteil, das Jugendstrafrecht sei zu lasch und junge Straftäter kämen oft ungeschoren davon. Doch die Praxis und kriminologische Studien belegen das Gegenteil. Der Erziehungsgedanke bewirkt, dass gerade Straftaten von Jugendlichen konsequenter verfolgt und sanktioniert werden als im Erwachsenenstrafrecht. So werden etwa Ermittlungen wegen Bagatelldelikten seltener eingestellt, die Anklagequote ist höher, häufiger wird U-Haft angeordnet und sogar freiheitsentziehende Maßnahmen werden sowohl öfter als auch länger vom Jugendrichter verhängt.

 
Warnschussarrest und Co.

Ungeachtet der Erfahrungen der Fachleute, fordern Politiker und Medien regelmäßig härtere und zusätzliche Sanktionen für Jugendliche. Zum Beispiel wird die Einführung des so genannten Warnschussarrests (auch Einstiegsarrest) gefordert und die abschreckende Wirkung einer solchen Freiheitsstrafe ins Feld geführt. Praktiker und Wissenschaft lehnen dagegen mehrheitlich den Warnschussarrest ab. Denn einmal im Arrest, verliert die Haft ihre abschreckende Wirkung bei den Jugendlichen und es tritt ein Gewöhnungseffekt ein. Dabei verweisen Experten auch auf die hohe Rückfallquote bei Freiheitsstrafe, Jugendstrafe und freiheitsentziehenden Maßregeln*: Bei einer Jugendstrafe ohne Bewährung werden 77,8 % der Jugendlichen innerhalb von vier Jahren rückfällig, bei Jugendstrafe mit Bewährung 59,6 % und bei Arrest sogar 70 %. Die Rückfallquote bei ambulanten Sanktionen liegt hingegen bei nur 31,7 %.

Gefordert wird außerdem die Erhöhung der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre. Dabei wird die Höchststrafe von 10 Jahren in der Praxis tatsächlich nur selten angeordnet. Eine Studie** zur Verurteilungsstatistik aus dem Jahr 2000 belegt, dass im Zeitraum von 10 Jahren gerade einmal 74 Jugendliche und Heranwachsende zu dieser Höchststrafe verurteilt wurden. Viele davon wurden vorzeitig entlassen - nicht ein einziger von ihnen wurde rückfällig.

Weiter wird die Unterbringung in Erziehungslagern nach amerikanischem Vorbild („Boot Camps") gefordert. Dabei ist bereits nach heutigem Jugendstrafrecht die freiwillige Teilnahme an einem solchen Erziehungslager möglich. Auch die Senkung des Strafmündigkeitsalters für Kinder ab dem 12. Lebensjahr wird vorgeschlagen. Die Experten hingegen lehnen dies aus humanitären Gründen ab.

Bei einem Heranwachsenden (18 - 21 Jahre) überprüft der Jugendrichter, ob er gemäß seinem Entwicklungszustand nach Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht zu behandeln ist. Nun wird die generelle Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende gefordert. Dies wird von Justiz und Rechtswissenschaft mehrheitlich abgelehnt und sogar, im Gegenteil, die generelle Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende gefordert.

 
Aktueller Fall: Sicherungsverwahrung

Derzeit will der Gesetzgeber die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht einführen. Gestern, am 28. Mai 2008, fand vor dem Rechtsausschuss die Anhörung der Experten statt. Im Erwachsenenstrafrecht wird die nachträgliche Sicherungsverwahrung bei besonders gefährlichen Straf- und Sexualstraftätern angeordnet, wenn es nach dem Vollzugsverhalten des Straftäters erforderlich erscheint. Auch wenn die Voraussetzungen regelmäßig alle zwei Jahre überprüft werden, ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung tendenziell „lebenslang" ausgerichtet.

Derzeit ist nur bei Heranwachsenden, die nach Erwachsenenstrafrecht behandelt werden, die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung möglich. Nach dem Willen der Bundesregierung soll dies zukünftig auch für Jugendliche und generell für Heranwachsende gelten, wenn es sich um eine Verurteilung von mindestens sieben Jahre Jugendstrafe handelt, die wegen eines Tötungsdelikts, wegen einer Vergewaltigung oder wegen einer schweren Körperverletzung verhängt wurde. Eine Überprüfung soll zwar jährlich erfolgen. Doch auch hier liegt der Schwerpunkt auf einer lebenslangen Sicherungsverwahrung.

Die Fachwelt ist mehrheitlich entschieden dagegen. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich. Prof. Dr. Heribert Ostendorf, Generalstaatsanwalt a.D. von der Universität Kiel sieht darin sogar einen Verstoß gegen internationale Standards und völkerrechtliche Vorgaben, zum Beispiel der UN und des Europarates zum Jugendkriminalitätsrecht, und gegen das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Wenn man bedenkt, dass auch Fehldiagnosen möglich sind, erscheint ein „Lebenslang" für Jugendliche zusätzlich problematisch.***

 
Jungen Menschen Perspektiven bieten

Das Jugendstrafrecht ist ein modernes Strafrecht, das der Justiz viele Möglichkeiten bietet, auf Straftaten Jugendlicher zu reagieren. Seine Aktualität belegen nicht zuletzt auch die vielen Sanktionsarten, die wegen ihrer Wirksamkeit in das Erwachsenenstrafrecht übernommen wurden: zum Beispiel der überwiegende Verzicht auf kurzzeitige Freiheitsstrafen, die Bewährungsstrafe, der Täter-Opfer-Ausgleich oder die Gesamtstrafenbildung.

Gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden muss Strafe als Grenzsetzung sein. Doch der Anstieg der Gewaltdelikte liegt nicht etwa daran, dass Jugendrichter die jungen Menschen ungeschoren davon kommen lassen. Zum Schutz der Allgemeinheit vor Gewaltverbrechern stellt das Jugendstrafrecht bereits angemessene Mittel zur Verfügung, die von Jugendrichtern und Jugendstaatsanwälten in der Regel auch ausgeschöpft werden. Gerade bei Jugendkriminalität spielt Prävention eine besonders wichtige Rolle: Das beste Mittel gegen die Kriminalität von Kindern und Jugendlichen ist es, ihnen ein sicheres soziales Umfeld, gesellschaftliche Teilhabe und Integration, Bildung und Zukunftsperspektiven auf ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben als Erwachsener zu bieten. Dazu können wir alle einen Beitrag leisten, indem wir Jugendlichen zuhören, sie ernst nehmen und bereits straffällig gewordene junge Menschen nicht ausgrenzen, sondern aktiv integrieren - in der Schule, durch das Anbieten von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen und im alltäglichen Miteinander.

(WEL)

*(Jehle/Heinz/Sutterer, Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen, hrsg. BMJ 2003)

**(Holger Schulz, Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht - eine Analyse der Urteile von1987 bis 1996") 

***(„Nachträgliche Sicherungsverwahrung bei jungen Menschen auf dem internationalen und verfassungsrechtlichen Prüfstand", Prof. Dr. Heribert Ostendorf und Christian Bochmann)

Foto(s): ©iStockphoto.com

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