Landgericht Arnsberg Beschluss vom 22.01.2024, Az.: 2 KLs-412 Js 287/22-36/23, Daten aus ANOM Chats nicht verwertbar

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Von Rechtsanwalt Andreas Milch


Nachdem das OLG München, Beschluss v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23 bereits Ende 2023 obergerichtlich festgestellt hatte, das Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM" mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, nicht verwertbar sind, ist dieser Linie nun auch das 

Landgericht  Arnsberg durch Beschluss vom 22.01.2024, Az.: 2 KLs-412 Js 287/22-36/23 gefolgt.

In dem Beschluss hatte das Landgericht Arnsberg darüber zu befinden, ob eine Anklage der Staatsanwaltschaft zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet wird.

Die Eröffnung des Hauptverfahrens setzt gem. § 203 StPO voraus, dass die Angeschuldigten der angeklagten Straftaten hinreichend verdächtig erscheinen. Dies bedeutet, dass nach dem gesamten Akteninhalt bei vorläufiger Tatbewertung die Verurteilung des / der Angeschuldigten mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein muss. Es ist also im Rahmen einer Prognose zu prüfen, ob angesichts der im Rahmen einer Hauptverhandlung voraussichtlich zur Verfügung stehenden Beweismittel ein Tatnachweis voraussichtlich zu erbringen sein wird.

Die Verdachtslage bestand hier hinsichtlich einzelner Taten ausschließlich auf Daten des kryptierten Kommunikationsanbieters ANOM, andere objektive Beweise standen hinsichtlich dieser einzelnen Taten nicht zur Verfügung.

Die Oberlandesgerichte Frankfurt am Main (Beschlüsse vom 22.11.2021, 1 HEs 427/221, NJW 2022, 710 und 14.02.2022, 1 HEs 509/21 pp., BeckRS 2022, 5572) und Saarbrücken (Beschluss vom 30.12.2022, 4 HEs 35/22) gehen in Haftentscheidungen von einer Verwertbarkeit der Erkenntnisse aus, wohingegen das Landgericht Memmingen (Urteil vom 21.08.2023, 1 KLs 401 Js 10121/22, BeckRS 2023, 26989) und das Oberlandesgericht München (Beschluss vom 19.10.2023, 1 Ws 525/23), deren Argumentation sich die Verteidigung in dem Verfahren vor dem LG Arnsberg zu Eigen machte, die Erkenntnisse mangels Überprüfbarkeit für nicht verwertbar halten.

Verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die Verwertung in der Hauptverhandlung erhobener Beweise ist § 261 StPO, unabhängig davon, ob diese zuvor im Inland oder auf sonstige Weise - etwa im Wege der Rechtshilfe - erlangt worden sind (BGH, Beschluss vom 02.03.2022, 5 StR 457/21, Beck RS 2022, 5306, Rn. 25) unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 und 857/10, BVerfGE 130, 1 ff. Rn. 120, 137 ff. mwN). 


Ausdrückliche Verwendungsbeschränkungen für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten sieht das deutsche Recht nicht vor, insbesondere ist § 100e Abs. 6 StPO hierauf nicht unmittelbar anwendbar; lediglich die dort verkörperte Wertung ist aus von Verfassungs wegen gebotenen Verhältnismäßigkeitsgründen entsprechend heranzuziehen. Das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots ist nach nationalem Recht zu bestimmen. Ein solches kann sich aus rechtshilfespezifischen Gründen oder aus nationalem Verfassungs- oder Prozessrecht ergeben. Darüber hinaus sind die Vorgaben der EMRK zu beachten.


Die Frage, ob im Wege der Rechtshilfe erlangte Beweise verwertbar sind, richtet sich ausschließlich nach dem nationalen Recht des um Rechtshilfe ersuchenden Staates, soweit der um Rechtshilfe ersuchte Staat die unbeschränkte Verwendung der von ihm erhobenen und übermittelten Beweisergebnisse gestattet hat (BGH, a.a.O. Rn. 26 m.w.N.). 


Demgegenüber ist die Rechtmäßigkeit von Ermittlungshandlungen nach dem Recht des ersuchten Staates zu bewerten. Eine Überprüfung hoheitlicher Entscheidungen des ersuchten Staates am Maßstab von dessen Rechtsordnung durch die Gerichte des ersuchenden Staates findet dabei grundsätzlich nicht statt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. November 2012 - 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32 Rn. 34 mwN; vom 9. April 2014 - 1 StR 39/14, NStZ 2014, 608). 


Im Rechtshilfeverkehr ist es vielmehr geboten, Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten, auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den innerstaatlichen - hier deutschen - Auffassungen übereinstimmen (BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019 - 2 BvR 1258/19 und 1497/19 Rn. 55 m.w.N.).


Das LG Arnsberg stellt in dem Beschluss vom 22.01.2024 fest, dass aufgrund des derzeitigen Ermittlungsstandes, wie er sich aus den vorgelegten Akten darstellt, nicht in der Lage ist, die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze zu überprüfen.


Mangels Offenlegung des Verlaufs der Ermittlungen, der im einzelnen durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen, und deren zugrundeliegenden richterlichen Anordnungen ist eine Überprüfung der Maßnahmen auf ihre Rechtmäßigkeit auch unter Beachtung der eingeschränkten Prüfungskompetenz nicht möglich.


Nach Auffassung des LG Arnsberg  ist der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, welcher den Rechtshilfeverkehr innerhalb der EU prägt, nicht anwendbar. Zudem ist diese Vermutung widerlegbar, weshalb der Vollstreckungsstaat die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung verweigern kann, wenn berechtigte Gründe für die Annahme eines nicht kompensierten Grundrechtsverstoßes sprechen (Erwägungsgrund Nr. 19 Sätze 2 und 3, Art. 11 RL EEA) (BGH Beschl. v. 2.3.2022 – 5 StR 457/21, BeckRS 2022, 5306 Rn. 28, beck-online).


Die aus den ANOM-Chats gewonnen Daten sind den deutschen Strafverfolgungsbehörden hier jedoch nicht unmittelbar von einem anderen EU-Mitgliedsstaat, sondern auf dem Umweg über das US-amerikanische FBI zur Verfügung gestellt worden. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Datenübergabe an das Bundeskriminalamt jedenfalls nicht unmittelbar auf einer ermittlungsrichterlichen Anordnung eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union, sondern auf einer Ermittlungshandlung der US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden beruht. Eine solche fällt nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie über Europäische Ermittlungsanordnungen.


Die Ausgangssituation unterscheidet sich nach Auffassung des LG Arnsberg insoweit erheblich von der Dechiffrierung des Kryptosystems EncroChat, deren Ergebnisse die Kammer in einem anderen Verfahren für verwertbar gehalten hat.


In den Verfahren betreffend die Erkenntnisse aus EncroChat  waren nämlich der gesamte Verfahrensablauf des ermittelnden Drittstaates, dort Frankreich einschließlich der zugrundeliegenden ermittlungsrichterlichen Beschlüsse bekannt (vgl. hierzu die ausführliche Darstellung im Beschluss des Bundesgerichtshofs v. 2.3.2022 – 5 StR 457/21). 

Sie waren nach Auffassung des BGH und des LG Arnsberg somit einer tat- und revisionsrichterlichen Überprüfung auf die Rechtmäßigkeit und Einhaltung der rechtsstaatlichen Verfahrensstandards zugänglich.


Demgegenüber unterliegen bei ANOM der Gang der Ermittlungen, die hierzu ergangenen gerichtlichen Entscheidungen und der beteiligte Drittstaat der Geheimhaltung durch die US-amerikanischen Behörden. Die entsprechenden Beschlüsse dieses Drittstaates liegen jedoch nicht vor. Sie werden sich voraussichtlich auch nicht ermitteln lassen.


Das Landgericht Memmingen hat in einem Strafverfahren (1 KLs 401 Js 10121/22) trotz entsprechender Bemühungen keine weiteren Erkenntnisse im Rahmen der Beweisaufnahme gewinnen können (Urteil vom 21.08.2023, BeckRS 2023, 26989). Es ist nicht zu erwarten, dass der Kammer des LG Arnsberg  eine weitere Aufklärung möglich sein wird, zumal das FBI nach den sich aus den weiteren Entscheidungen ergebenden Informationen die Nennung des Drittstaates auch zukünftig ausgeschlossen hat.


Darüber hinaus kann der sich anhand tatsächlicher Anhaltspunkte ergebende Verdacht, es könne sich um eine anlasslose Massenüberwachung – und damit nicht um eine strafprozessuale, sondern geheimdienstliche Maßnahme handeln – nicht widerlegt werden. Auch insofern unterscheidet sich die Sachlage deutlich von derjenigen betreffend das System EncroChat.

Das deutsche Strafprozessrecht setzt für die Anordnung von Telekommunikations-überwachungsmaßnahmen den konkreten Verdacht einer schweren Straftat aus dem Katalog des § 100a Abs. 2 StPO voraus. Ausgangspunkt für die Überwachung der EncroChat-Kommunikation war ein bei den französischen Behörden geführtes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen die unbekannten Betreiber des Systems. Demgegenüber scheint es sich bei dem vom FBI initiierten Inverkehrbringen der ANOM-Geräte um eine präventive Maßnahme zu handeln, um Erkenntnisse über Straftaten zu erlangen, die erst künftig begangen werden würden. Bei Beginn der Abhörmaßnahmen lag ein individualisierter Tatverdacht gegen die betroffenen Personen nicht vor. Aus diesem Grund bestehen erhebliche Zweifel daran, ob für die Datenerhebungen nach US-amerikanischen oder deutschem Recht eine Ermächtigungsgrundlage besteht (so auch OLG München, Beschluss vom 19.10.2023, 1 Ws 525/23, BeckRS 2023, 30017, Rn. 63).


Auch eine bewusste Umgehung strengerer inländischer Anordnungsvoraussetzungen, die ebenfalls ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 02.03.2022, 5 StR 457/21, Beck RS 2022, 5306, Rn. 75), lässt sich letztlich nicht sicher ausschließen. Anhaltspunkte für ein „Befugnisshopping“ der US-amerikanischen Behörden ergeben sich aber daraus, dass eine Überwachung der eigenen Staatsbürger nicht zulässig war und ein Serverstandort in einem Drittstaat gefunden werden musste. Auch der Umstand, dass die zunächst ersuchten australischen Gerichte die Herausgabe der Daten verweigert haben sollen, und man dann offenbar weiter „gesucht“ hat, bis man den unbekannten Drittstaat „gefunden“  hat, in dem eine Datenerhebung möglich gemacht wurde, ist kritisch zu bewerten.


Die Entscheidungen der Oberlandesgerichte Saarbrücken und Frankfurt am Main stehen dieser Bewertung nicht entgegen. Die Entscheidung des OLG Saarbrücken geht von einem „bislang“ nicht näher benannten EU-Mitgliedsstaat aus. Dabei setzt sich der Beschluss allerdings nicht damit auseinander, dass die Datenlieferung nicht unmittelbar aus dem Mitgliedsstaat, sondern auf dem Umweg über das FBI erfolgte, so dass der innereuropäische Vertrauensschutz fraglich ist.


Die Entscheidungen des OLG Frankfurt am Main stellen darauf ab, dass die Chatprotokolle nach „derzeitigem“ Stand „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ verwertbar seien. Dabei stellt das Gericht ebenfalls auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Rechtshilfeverkehr mit anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ab. In einer Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. standen zudem weitere Beweismittel zur Verfügung, die auf der Grundlage der Erkenntnisse gewonnen worden waren, darunter auch die Angaben zweier Mitbeschuldigter. Darüber hinaus hat das OLG seine Prüfung ausdrücklich auf den Stand der Ermittlungen beschränkt, wie er sich nach Aktenlage darstellte.


Die bisherigen Bemühungen der Tatgerichte, die Umstände weiter aufzuklären, sind jedoch gescheitert (vgl. LG Memmingen a.a.O.).


Zusammenfassend stellt das LG Arnsberg abschließend nochmals auf die Ausführungen in der Enrochat-Entscheidung des BGH (Beschluss vom 02.03.2022, 5 StR 457/21) ab. 


Dort wird darauf hingewiesen, dass das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz kennt, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist.


Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde.


Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde (Rn. 43 des o. g. Beschlusses).

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Nach diesen Grundsätzen ist in dem vom LG Arnsberg zu entscheidenden Fall von einem Verwertungsverbot hinsichtlich der übermittelten Daten auszugehen, da die Auswirkungen dergestalt sind, dass dem Angeklagten jegliche Möglichkeit genommen wird, die Rechtmäßigkeit der Informationsgewinnung in dem unbekannten Drittstaat zu überprüfen und ihm somit jegliche Möglichkeit, zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des auf diesen Informationen beruhenden Verfahrens genommen wird. 


Ob die Mindestanforderungen an eine zulässige und zuverlässige Informationsgewinnung gewahrt sind, kann eben weder vom Angeklagten noch durch die Kammer des LG Arnsberg auch nur ansatzweise geprüft werden, es fehlen hierzu jegliche konkreten Informationen, während sich gleichzeitig aus den verfügbaren Informationen – wie oben dargelegt – Anhaltspunkte für mögliche verfahrensrechtliche Verstöße ergeben.



Der Autor ist Fachanwalt für Strafrecht und  Verteidiger in einer Vielzahl von Encro-, Sky-Ecc- und Atom-Verfahren. Auch ist er der Verteidiger des ersten SKY-Ecc-Großverfahrens Deutschlands (2022), welches nun im Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof ist und auch dort eines der ersten sein dürfte.

Rechtsanwalt Milch verfügt über ein ausgeprägtes IT-technisches Verständnis, welches für die Verteidigung in derartigen Kryptoverfahren sehr hilfreich ist.

Foto(s): @pixabay.com = Niek Verlaan

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