Pflegegeld für Zeiträume bereits vor Antragstellung möglich

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In einer aktuellen Entscheidung hat der für Angelegenheiten der Pflegeversicherung zuständige 3. Senat des Bundessozialgerichts entschieden, dass Leistungen der Pflegeversicherung - insbesondere Pflegegeld - auch für Zeiträume vor Antragstellung zu erbringen sind, wenn über die Möglichkeit der Beantragung nicht in dem erforderlichen Umfang aufgeklärt wurde.


Hintergrund der Entscheidung

Grundsätzlich sind Leistungen der Pflegeversicherung erst ab Antragstellung zu erbringen. Abzustellen ist dabei auf den Eingang des Antrags bei der Pflegeversicherung. Leistungen für Zeiträume vor Antragstellung schließt das Gesetz aus. Einzige Ausnahme ist für den Fall vorgesehen, dass bereits vor dem Monat der Antragstellung Pflegebedürftigkeit bestand. In diesem Fall sind Leistungen bereits für den gesamten Monat der Antragstellung zu erbringen. Näheres dazu finden Sie in meinem Rechtstipp Pflegegeld für den gesamten Monat der Antragstellung.


Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

Eine Ausnahme des strikten Antragsprinzips ist der sogenannte „sozialrechtliche Herstellungsanspruch“. Dieser soll Pflichtverletzungen eines sozialen Leistungsträgers im Hinblick auf dessen Pflichten zur Aufklärung, Beratung und Auskunftserteilung ausgleichen. Erwächst einem Bürger aus einer Pflichtverletzung einer Behörde ein Nachteil, weil er zum Beispiel falsch oder unvollständig beraten worden ist, so kann er nach dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch verlangen, so gestellt zu werden, wie er stehen würde, hätte die Behörde sich rechtmäßig verhalten.

Wendet sich zum Beispiel ein Versicherter an einen Mitarbeiter einer Pflegekasse und ergibt sich aus dem Gespräch ein Pflegebedarf, so muss die Pflegekasse ihn auf seine Rechte hinweisen und insbesondere auf die Möglichkeit zur Beantragung von Leistungen aufmerksam machen. Macht sie dies nicht und stellt der Versicherte aus diesem Grund keinen Antrag auf Leistungen, kann er im Nachhinein verlangen, so gestellt zu werden, als wäre er korrekt und umfassend auf seine Rechte hingewiesen worden. In diesem Falle kann davon ausgegangen werden, dass er bei korrekter Auskunft einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung gestellt hätte. Liegen die sonstigen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung vor, sind Leistungen also ab dem Zeitpunkt des Beratungsgesprächs zu erbringen.


Entscheidung des BSG

Das Bundessozialgericht hat nun mit Urteil vom 17.6.2021 (B 3 P 5/19 R) entschieden, dass der sozialrechtlicher Herstellungsanspruch auch Anwendung finden kann, wenn während eines Krankenhausaufenthaltes das Krankenhaus seinen Informations- und Beratungspflichten nicht ausreichend nachkommt und daher erforderliche Anträge bei der Pflegekasse nicht gestellt werden.

Fehlende Beratung durch das Krankenhaus

Wenn eine stationäre Einrichtung bei Entlassung und absehbarer Pflegebedürftigkeit nicht hinreichend aufgeklärt bzw. beraten hat, muss die Pflegekasse sich die vom Krankenhaus zu erfüllenden Informations- und Beratungspflichten wie eigene Beratungsfehler zurechnen lassen. Folge bei umzeichnender Aufklärung durch das Krankenhaus – in der Regel hat eine Beratung durch den Sozialdienst zu erfolgen - ist dann, dass der Antragsteller so zustellen ist, als wäre er richtig beraten worden und hätte dementsprechend die erforderlichen Anträge bei der Pflegekasse gestellt. Ab der Entlassung aus dem Krankenhaus können also Leistungen rückwirkend geltend gemacht werden, sofern die übrigen Voraussetzungen gegeben sind.

Hintergrund ist die Regelung des § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Demnach haben der behandelnde Arzt, dass Krankenhaus die Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen sowie die Sozialleistungsträger mit Einwilligung des Versicherten unverzüglich die zuständige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet oder wenn Pflegebedürftigkeit festgestellt wird.


Für die Praxis

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts bedeutet praktisch, dass im Falle von Pflegebedürftigkeit bei Entlassung aus einer stationären Krankenhausbehandlung Leistungen der Pflegeversicherung ab dieser Zeit geltend gemacht werden können.

Widerspruch sollte eingelegt werden

Sollten Sie den Antrag erst zu einem späteren Zeitpunkt gestellt haben, wird die Pflegekasse Leistungen voraussichtlich erst ab Antragstellung erbringen. In diesem Fall rate ich dazu, im Zweifel Widerspruch einzulegen und auf die oben genannte Entscheidung des Bundessozialgerichts zu verweisen.

Benachrichtigungspflicht des Hausarztes

Zu beachten ist, dass die Pflicht zur Benachrichtigung der Pflegekasse auch den Hausarzt trifft. So hat bereits 2010 das LSG Berlin-Brandenburg (23.9.2010 – L 27 P 5/09) entschieden, dass ein Pflegebedürftiger gegenüber der Pflegekasse einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geltend machen kann, wenn sein Hausarzt die sich aus § 7 Abs. 2 S. 2 SGB XI ergebende Benachrichtigungspflicht verletzt.

Demzufolge muss sich die Pflegekasse unter Umständen auch die Fehler des Hausarztes zurechnen lassen. Nach der jetzt vorliegenden Entscheidung des Bundessozialgerichts sollten Versicherte auch diesen Weg versuchen zu gehen. Denn nicht selten kommt es in meiner Praxis vor, dass eigentlich seit längerer Zeit Pflegebedürftigkeit besteht, die erforderlichen Anträge aber erst sehr viel später gestellt werden. Pflege – in der Regel durch nahe Angehörige und Familie – findet aber natürlich schon längst statt. De facto besteht auch für diese Zeiten ein Anspruch auf Pflegegeld. Das bestätigt das BSG in seiner Entscheidung ganz eindeutig.


Sollten Sie bei der Prüfung eines Bescheides der Pflegekasse Hilfe benötigen, Rückfragen haben oder Widerspruch gegen einen Bescheid einlegen wollen, stehe ich Ihnen gerne bei der Durchsetzung Ihrer berechtigten Ansprüche gegenüber der Pflegekasse zur Verfügung.


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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