Strafzumessung: Nachträgliche Gesamtstrafenbildung – Genau hinschauen lohnt sich!

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Einleitung: ein typischer Fall

A ist zum Monatsende wie üblich knapp bei Kasse. Im Abstand von 5 Tagen begeht er zweimal Ladendiebstahl in zwei unterschiedlichen Supermärkten. Bei beiden Vorfällen wird er erwischt, woraufhin die Supermärkte Anzeige erstatten. Die Polizei und Staatsanwaltschaft bearbeiten die beiden Fälle separat, es gibt also zwei Verfahren mit unterschiedlichen Aktenzeichen, wobei der zweite Vorfall aus bestimmten Gründen deutlich schneller bearbeitet wird als der erste. Wegen der zweiten Tat erhält A bereits nach 2 Monaten einen Strafbefehl über 30 Tagessätze. A akzeptiert den Strafbefehl, der rechtskräftig wird. Ein halbes Jahr später erhält A einen weiteren Strafbefehl, diesmal in Höhe von 60 Tagessätzen, wegen der ersten Tat.

A, zwar notorisch klamm, aber keineswegs auf den Kopf gefallen, hat ein komisches Gefühl bei der Sache. Er findet, dass die beiden Taten doch irgendwie "im Zusammenhang" gesehen werden müssten. Außerdem versteht er nicht recht, warum er wegen der ersten Tat, jetzt plötzlich 60 Tagessätze aufgebrummt bekommt, gibt da es aus seiner Sicht zwischen den beiden Taten keinen wirklichen Unterschied; der Wert der von ihm zu stehlenden beabsichtigten Waren war inetwa gleich.


A's intuitives Gefühl ist korrekt, wie sich im Folgenden zeigen wird.


Was wäre bei gemeinsamer Verfolgung beider Taten passiert?

Wären die Taten von der Polizei bzw. Staatsanwaltschaft zu einem Verfahren verbunden worden (wie es sinnvoll gewesen wäre), wären beide Taten gemeinsam verfolgt und in einem Strafbefehl gemeinsam abgeurteilt worden. Es kann in diesem Fall davon ausgegangen werden, dass für zwei im Wesentliche identische Taten auch zwei identische Einzelstrafen von jeweils 30 TS festgesetzt worden wären (dazu sogleich). Aus den beiden Einzelstrafen von 30 TS wäre im Strafbefehl dann eine Gesamtstrafe gebildet worden. Ausgehend von den 30 TS für die erste Tat wäre die Strafe wegen der zweiten Tat "maßvoll“ erhöht worden – wegen des engen zeitlichen und motivationalen Zusammenhangs zwischen beiden Taten – die Taten wurden in sehr kurzem zeitlichen Abstand zueinander aus der gleichen Notlage heraus begangen – darf davon ausgegangen werden, dass die Erhöhung maximal 10-15 TS betragen hätte, also eine Gesamtstrafe von 40-45 TS verhängt worden wäre (der Strafrechtler nennt eine solche nur relativ geringfügige Erhöhung der Einsatzstrafe: "die Einzelstrafen straff zusammenziehen").


Was ist tatsächlich passiert?

Durch die getrennte Verfolgung der beiden Taten wurden gegen A mit  zwei Strafbefehlen zwei Einzelstrafen verhängt, deren Gesamtsumme (30+30=60 TS) schon aus diesem Grunde deutlich höher liegt als die Gesamtstrafe (40-45 TS), die in einem einzigen Verfahren verhängt worden wäre. Die Diskrepanz wird zusätzlich dadurch verschärft, dass Staatsanwaltschaft und Gericht bei Erlass des zweiten Strafbefehls die bereits im Bundeszentralregister aufgeführte Vorverurteilung wegen der zweiten Tat strafverschärfend in Bezug auf abzuurteilende Tat berücksichtigt haben. So (nur so) erklärt sich auch das Plus von 30 TS im zweiten Strafbefehl (60 TS gegenüber 30 TS). Das ist freilich rechtsfehlerhaft, da eine Vorverurteilung immer nur dann strafschärfend berücksichtigt werden kann, wenn die später abzuurteilende Tat zeitlich nach der ersten Verurteilung begangen wurde, aber insbesondere im Massengeschäft der Strafbefehlsverfahren können solche „Details“ leicht "durch die Lappen" gehen; de facto passieren derartige Fehler ständig.

Infolgedessen steht A nun mit einer Strafe von 30+60=90 TS da, anstatt wie es richtig gewesen wäre, mit einer Strafe von 40-45 TS, was glatt eine Verdoppelung seiner Strafe darstellt.


Die Lösung: Nachträgliche Gesamtstrafenbildung

Zweck

Genau für die hier geschilderte Situation gibt es die sogenannte „nachträgliche Gesamtstrafenbildung“ (§ 55 StGB). Sie zielt darauf ab, einen Ausgleich zu schaffen, wenn mehrere Taten theoretisch hätten gemeinsam abgeurteilt werden können, dies aber nicht geschehen ist. Es soll der Nachteil des Täters ausgeglichen werden, der durch die beiden Einzelstrafen schlechter gestellt ist, als er es bei einer Gesamtstrafenbildung wäre. Das ist auch richtig und notwendig. Denn ob mehrere Taten getrennt oder gemeinsam verfolgt und angeklagt werden, hängt nicht selten nur vom Zufall ab.


Voraussetzungen

Die nachträgliche Gesamtstrafenbildung hat im allgemeinen drei Voraussetzungen:


  1. Die jetzt abzuurteilende Tat muss vor der früheren Verurteilung begangen worden sein.
  2. Die frühere Verurteilung muss rechtskräftig sein.
  3. Die frühere Strafe darf noch nicht vollständig vollstreckt worden sein.


Wie wird die nachträgliche Gesamtstrafenbildung umgesetzt?

Normalerweise erfolgt die nachträgliche Gesamtstrafenbildung bereits im Urteil selbst. Die Strafe aus der früheren Verurteilung wird in das spätere Urteil „einbezogen“. Das heißt: Der Richter des späteren Verfahrens bildet aus der in dem vorherigen Verfahren verhängten Einzelstrafe und der in seinem Verfahren zu verhängenden Einzelstrafe eine Gesamtstrafe. Dabei darf der Richter des späteren Verfahrens die einzubeziehende Strafe selbst in keinem Fall antasten, sondern hat sie eins zu eins so zu übernehmen so wie sie der Richter des früheren Verfahrens zugemessen hat. Bei der Gesamtstrafenbildung geht der Richter dann genauso vor wie oben beschrieben, indem die Einsatzstrafe „maßvoll“ erhöht wird.

Was, wenn die nachträgliche Gesamtstrafenbildung übersehen wurde?

In der Praxis kann es vorkommen, dass der Richter des späteren Verfahrens keine Kenntnis von der Existenz einer anderen, bereits rechtskräftigen Verurteilung hat oder die „Gesamtstrafenfähigkeit“ einer Vorverurteilung schlicht übersieht. Oder es liegt, wie in unserem Beispiel, ein Strafbefehlsverfahren vor, bei dem prinzipiell keine nachträgliche Gesamtstrafenbildung durchgeführt wird. Dann ist es gemäß § 460 StPO möglich, die verhängten Einzelstrafen nachträglich durch gesonderten Beschluss auf eine Gesamtstrafe zurückzuführen. Für diese Entscheidung ist dann dasjenige Gericht zuständig, welches die höchste Einzelstrafe verhängt hat. Das Gleiche gilt auch für den Fall, dass im zweiten Urteil eine Gesamtstrafenbildung wegen fehlender Rechtskraft des Ersturteils nicht möglich war. Die Entscheidung über die Nachholung der unterlassenen nachträglichen Gesamtstrafenbildung ergeht durch Beschluss im schriftlichen Verfahren. Gegen diesen ist die sofortige Beschwerde zulässig.


Praxistip

In unserem Eingangsbeispiel sollte A demnach fristgerecht Einspruch gegen den zweiten Strafbefehl einlegen mit der Begründung, dass 1) die strafschärfende Berücksichtigung der Vorverurteilung rechtsfehlerhaft ist und 2) auf die "Gesamtstrafenfähigkeit" der Geldstrafe hinweisen – er wird dann voraussichtlich "nur" eine deutlich reduzierte Strafe in Höhe von 30-45 TS erhalten anstatt 90 TS.

Als allgemeiner Ratschlag gilt: Wenn Sie innerhalb eines kürzeren Zeitraums wegen mehrerer Straftaten in gesonderten Verfahren verurteilt wurden, und in dem späteren Verfahren keine Gesamtstrafe gebildet wurde, kann es sich lohnen von einem Anwalt überprüfen zu lassen, ob eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt. Auf diese Weise kann u.U. „ohne viel Aufwand“ eine erhebliche Reduzierung Ihrer Strafe erreicht werden. Insbesondere bei "kleineren Sachen" und Strafbefehlsverfahren, in denen kein Verteidiger beteiligt war, wird die nachträgliche Gesamtstrafenbildung gerne übersehen.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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