Wann und wen schreibt der Staat als Pflichtverteidiger vor? Ein Ausblick in die Praxis und Gesetz

  • 4 Minuten Lesezeit

1.

Im Strafprozess sind die Parteirollen klar verteilt, jede Position vertritt entsprechend ihres Berufsbildes eine These davon, was sich wie ereignete und wie dafür zu strafen oder weshalb freizusprechen sei, und arbeitet sich anhand eines im Gerichtssaal gelandeten zwischenmenschlichen Straffalles daran ab.

Weil das Anklagemonopol einer Selbstjustiz unterbindenden Gesellschaft dem (Rechts)Staat gleich einem Leviathan wilder Ozeane überquerend übertragen ist, muss der Anklage eine Institution entgegengesetzt werden, deren vorderste Aufgabe es ist, die Prozessrechte eines (welcher Straftat auch immer) angeklagten Menschen gegen den Staat wirksam zu Geltung zu bringen und ihn zu verteidigen. Zu beachten ist:

Gerichte und die aus ihnen bestehenden Spruchkörper bilden eine echte Machtzentrale der Gesellschaft (vgl. Adorno in „Minima Moralia“). Die den Gerichten vorsitzenden Richter entscheiden mittels formalisierten Prozesses, weshalb ein Mensch für welche Tat für wie lange ins Gefängnis muss. Vorher wird per richterlichen Durchsuchungsbeschluss befohlen, wann wo wessen Wohnung zur Auffindung von Beweismitteln und/oder zur Auffindung des in ihr vermuteten Täters gemacht, also durchsucht wird. Es reicht dazu schon der einfache Verdacht (Anfangsverdacht) eine Tatbegehung aus. Die Gesetzesväter wollten den Richtern also viel Macht verleihen.

Gemessen an diesen Grundrechtseingriffen könnte man der Auffassung sein, Strafverteidigung kann dem Gewichtverhältnis nur wenig abringen:

Zutreffend; der aus einem bis maximal drei Rechtsanwälte bestehende Verteidigung bleibt etwa gegen polizeiliche Maßnahmen oder richterlich angeordnete Eingriffe in Bürgerrechte nur das eine: das Wort. Das Wort also muss dabei stets geschickt eingesetzt und das ihn als Mandantenbegehren formulierte Wort effektiv durchgebracht werden. Sein Standort – wohl durchdacht – könnte sein anwaltliche: Beschwerde, Anträge, Anregung, Befangenheitserklärung, Prozesserklärung, Plädoyer, Gegenrede, Open Statement, Berufung, Revision, Verzögerungsrüge, Besetzungsrüge, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und so weiter.

2.

Die Regelung, wann ein Mensch vor Gericht einen Pflichtverteidiger bestellt werden muss, listet § 140 Abs. 1 StPO enumerativ auf:

Danach ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht (In Berlin: vor dem Kammergericht) oder dem Landgericht stattfindet; oder wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen (also nach § 12 StGB eine Straftat zur Last gelegt wird, welche im Mindestmaß nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe vorsieht), das Strafverfahren zu einem Berufsverbot führen kann, gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder § 275a Absatz 6 vollstreckt wird oder wenn sich der Beschuldigte mindestens drei Monate auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird; oder zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 StPO infrage kommt oder ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird oder der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist oder wenn dem Verletzten nach den §§ 397a und 406h Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist.

Dieser klare Wortlaut des § 140 Abs. 1 StPO verdeutlicht, wann man das Recht auf einen Verteidiger hat. Selbst dann, wenn man freiwillig verzichten wollte auf einen Anwalt, wird man einen Zwangsverteidiger vorgesetzt bekommen (europarechtlich interessant im Falle Slobodan Milosevic vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal Den Haag). Denn „bereits“ bei Verbrechensvorwürfen muss ein deutsches Gericht wegen seiner Fürsorgepflicht (und wegen Waffengleichheit) bei drohender Freiheitsstrafe dafür Sorge tragen, dass ein fachkundiger Strafjurist, die Rechte eines Angeklagten gegenüber der Justiz für diesen wahrnimmt. Der Austausch eines Pflichtverteidigers im laufenden Verfahren unterliegt hohen Hürden (interessant nachzulesen beim NSU-Prozess und der Hauptangeklagten Zschäpe) und die Kosten eines Pflichtverteidigers trägt ein Angeklagter im Falle seiner Verurteilung als Teil seiner notwendigen Auslagen selbst, was in § 465 StPO geregelt ist. Ein Pflichtverteidiger ist also kein vom Staat bezahlter Anwalt zweiter Klasse.

3.

Nach Absatz 2 des § 140 StPO bestellt der Vorsitzende des Strafgerichts auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann, dem Antrag eines hör- oder sprachbehinderten Beschuldigten ist zu entsprechen.

Die Vorschrift des § 140 Abs. 2 StPO eröffnet dem Gericht einen großen und auslegungsfähigen Spielraum, wenn es um die Bestellung eines Pflichtverteidigers geht, aber kein Fall des § 140 Abs. 1 StPO vorliegt (Auffangtatbestand oder auch Generalklausel).

Hier soll in Kürze dargestellt werden, was § 140 Abs. 2 StPO bedeutet:

Die Schwere der Tat beurteilt sich nach dem zu erwartenden Urteil, wobei ein Jahr Freiheitsstrafe den Gerichten Anlass geben sollte, einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Die Schwierigkeit der Sach – und Rechtslage wiederum besteht nicht etwa bei längerer Hauptverhandlung oder bei schwieriger Beweislage, zB weil ein Indizienbeweis geführt wird, kann jedoch vorliegen, wenn eine Begutachtung eines Angeklagten vorgesehen ist. Materiell-rechtlich ist eine Sach- und Rechtslage schwierig, wenn darüber ein Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH gerichtet wird.

Fehlende Selbstverteidigung liegt vor, wenn der Angeklagte unter Betreuung steht oder Analphabet ist (OLG Celle StV 83, 187), taube und stumme Angeklagte erhalten einen Verteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO. Eine hoch schwangere Angeklagte wird über § 140 Abs. 2 StPO einen Anwalt zu ihrem Pflichtverteidiger gestellt bekommen.

4.

Wer Post vom örtlichen Strafgericht bekommt und darin im Anhang eine gegen sich (und andere Angeklagte) lautende Anklageschrift erhält und das Gericht erwägt, einen Pflichtverteidiger zu bestellen, kann seinen Anwalt bzw. Strafverteidiger des Vertrauens benennen, sodass das Gericht diesen als Pflichtverteidiger beiordnen muss.

Die Bestellung des Wunschanwalts hat mit dessen Vergütung gegenüber dem Mandanten indes nichts zu tun und muss ggf. separat geregelt werden.

D. Lehnert 

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Strafrecht 

Lehrbeauftragter 


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

Artikel teilen:


Sie haben Fragen? Jetzt Kontakt aufnehmen!

Weitere Rechtstipps von Rechtsanwalt Daniel Lehnert

Beiträge zum Thema