Heranwachsende: Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht

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Für Heranwachsende hat es entscheidende Vorteile, wenn das Gericht sie immernoch nach dem Jugendstrafrecht beurteilt. Das Strafspektrum ist ein wesentlich geringeres und sozialeres, nicht nur Geldstrafe oder Haftstrafe, sondern auch Arbeitsauflage, Ableisten gewisser Dienste, Teilnahme an psychologischen Kursen, Ermahnungen, etc.
Als Anwalt für Jugendstrafrecht ist die Kenntnis der Kriterien, nach denen die Jugendgerichtshilfe die Einstufung nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht vornimmt, mein täglich Brot. Beauftragen Sie nach Möglichkeit bereits einen Anwalt, BEVOR das Gespräch mit dem Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe stattfindet! Nur dann kann ich bereits in diesem Stadium darauf Einfluss nehmen, wie eine Beurteilung aussehen wird. Im Nachhinein eine bereits erfolgte Begurtachtung der Jugendgerichtshilfe in Zweifel zu ziehen, ist zwar möglich, aber der wesentlich schwierigere und weniger erfolgversprechende Weg.

Wie sehen die Kriterien aus, nach denen die Jugendgerichtshilfe ihren Vorschlag, ob Jugend- oder erwachsenenstrafrecht angewendet werden soll, abgibt:


Prozessmodell der Beurteilung der strafrechtlichen Entwicklungsreife nach Busch/ Dahle

- Schritt I

Analyse der sozialen und familiären Ausgangssituation, entwicklungskriminologische Besonderheiten, Ausgangspunkte und Verläufe dissozialer Einstellungs- und Verhaltensmuster, deviante soziale Einflüsse, Risikofaktoren und Schutzfaktoren

- Schritt II

Analyse der Defizite und Kompetenzen zum Tatzeitpunkt, Einflüsse durch Verführungen, soziale Verhaltenserwartungen, Provokationen, innerer Bedürfnisse

- Schritt III

Identifikation der Tatbeweggründe (Bsp. Mutprobe etc.), situative Einflüsse (Bsp. Gruppendynamik) und sonstige Tathintergründe (mangelnder Situationsüberblick)


Kriterien für § 105 Nr. 1 JGG:

Jugendlicher ist nach dem BGH „der noch ungefestigte, in der Entwicklung stehende, auch noch prägbare Mensch, bei dem Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind.“ 

- Täter als „unfertiger, noch formbarer Mensch“, dessen Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, entscheidend ist sittliche oder geistige Entwicklung
- Grundlegend: Marburger Richtlinien (MschrKrim 1955, S. 60 ff.) und
- Bonner DELPHI-Studie
 - Jugendpsychologen, Jugendpsychiater und Jugendrechtler haben in den "Marburger Richtlinien" einen Katalog mit Kriterien entwickelt, um die sittliche und geistige Entwicklung eines Heranwachsenden zu beurteilen, 1954


- Kriterien sind danach zum Beispiel charakteristische jugendtümliche Züge: 

-> keine konkrete Lebensplanung,

-> Leben des Augenblicks,

-> Neigung zu Tagträumen,

-> die (spielerische) Einstellung zur Arbeit,

-> Bindungsfähigkeit,

-> Verhältnis zu Altersgenossen sowie zu den Eltern,

-> mangelnder Anschluss an Altersgenossen,

-> mangelnde Eigenständigkeit

-> starke Anlehnungsbedürftigkeit,

-> Naiv-vertrauensfähiges Verhalten,

-> Fähigkeit zu selbständigem Urteilen,

-> Fähigkeit zu selbständigem Entscheiden,

-> Fähigkeit zu zeitlich überschauendem Denken oder die Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu unterbauen.

-> mangelhafte Ausbildung der Persönlichkeit

-> Hilflosigkeit, die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt,

-> Neigung zu abenteuerlichen Unternehmungen,

-> Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen,

- Eine Jugendverfehlung ist grundsätzlich auch bei Gewalttaten Heranwachsender denkbar.

- Jugendliche Unreife kann sich insbesondere in einem "Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit und Hemmungsvermögen" ausdrücken (BGH 5 StR 375/07 vom 25.09.2007)

- Verallgemeinerung nicht möglich sein. Die Prüfung erfordert eine umfassende Erforschung und Würdigung der persönlichen Lebensumstände durch die Jugendgerichtshilfe


§ 105 JGG Nr. 2: Jugendverfehlung

„Unter Jugendverfehlungen sind in erster Linie Taten zu verstehen, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild oder nach den Beweggründen des Täters Merkmale jugendlicher Unreife aufweisen.“ „Maßgebend für die Würdigung als Jugendverfehlung sind die äußeren Tatumstände und die Beweggründe des Täters. Ergibt sich aus ihnen, dass es sich um oberflächliche Entgleisungen handelt, die u.a. auf mangelndem Widerstandsvermögen gegen böses Beispiel, den Lockungen einer plötzlichen Versuchung, dem Herdentrieb, einer falsch verstandenen Kameradschaft oder auf
 unüberlegter Abenteuerlust beruhen, so kann die Anwendung des § 105 Abs. 1 Ziff. 2 JGG geboten sein.“

- Die Tat als Eindruck einer jugendtümlichen Verhaltensweise oder wenn sie Ausdruck der typisch jugendlichen Lebenssituation ist; sie ist nicht auf den Täter, sondern auf die Tat abzustellen → somit entsprechen die Beweggründe der Tat den Antriebskräften einer jugendtümlichen Entwicklung:

- Beispiele aus der Rechtsprechung dafür sind beispielsweise: 

-> Imponiergehabe,

-> falsch verstandene Kavalierspflicht

-> Mutprobe,

-> Drang zur Selbstbestätigung,

-> in dem Bestreben, den ‘Helden‘ zu spielen

-> Unausgeglichenheit,

-> Neugier,

-> jugendlichem Leichtsinn oder

-> Gruppendruck das ist häufig (nicht immer) der Fall bei Diebstählen als "Mutprobe", Drogenkonsum, Fahren ohne Fahrerlaubnis oder Autorennen

-> aus falsch verstandener Kameradschaft

-> mangelndem Widerstandsvermögen gegen böses Beispiel und die Lockungen einer plötzlichen Versuchung

-> keinem verbrecherischen Hang, keiner sittlichen Verdorbenheit oder tieferer Verwahrlosung entsprungen


Was für Konsequenzen ergeben sich nun aus § 105 Nr. 1 und Nr. 2 JGG?

- es handelt sich somit in jedem Einzelfall um eine Entscheidung, die entweder an Hand der Persönlichkeit des Täters oder an Hand der Charakteristika der Tat getroffen werden muss
 - gleicht der Heranwachsende in seiner Person oder seinem Handeln noch eher einem Jugendlichen soll mit den Mitteln des Jugendstrafrechts erzieherisch auf ihn eingewirkt werden
 - bei Anwendung von Jugendstrafrecht
 - Jugendstrafe bis zu zehn Jahren ist möglich; Höchststrafe Der Bundesrat hat am 06.07.2012 dem Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten (Drucksache: 350/12) zugestimmt. In Jugendstrafsachen wird damit in § 16a Jugendgerichtsgesetz (JGG) die Möglichkeit zur Verhängung eines Jugendarrests neben einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe (Warnschussarrest) eingeführt. Gleichzeitig wird das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende von 10 Jahren auf 15 Jahre erhöht (§ 105 Abs. 3 S. 2 JGG

Gemäß § 43 (2) JGG ist eine Untersuchung des Beschuldigten soweit erforderlich auch auf andere für das Verfahren wesentliche Eigenschaften vorzunehmen. Dazu zählen u. a.

Erziehungsmängel,

für eine Erziehung hinderliches Milieu,

neg. Gruppenbeeinflussung,

Autonomie des Jugendlichen,

Ablösung vom Elternhaus,

Fähigkeit zu einer verantwortlichen Beziehung,

Unrechtstat in der Lebenswelt des Jugendlichen beheimatet.


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