Überblick über die Rechtsprechung zum SGB II im Jahr 2010

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Auch 2010 sind wieder zahlreiche bedeutsame Entscheidungen der Sozialgerichte im Bereich des Rechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende - Hartz IV - ergangen. Im Folgenden werden einige besonders hervorzuhebende Entscheidungen kurz vorgestellt:

Antragsgrundsatz

Hartz-IV-Leistungen werden auf Antrag und erst ab dem Zeitpunkt der Antragstellung erbracht, für Zeiten vor Antragstellung werden keine Leistungen erbracht (§ 37 SGB II). Dies gilt nach Ablauf eines Bewilligungszeitraums, selbst bei vorliegender Bedürftigkeit, auch für Folgeanträge und nicht nur für den Erstantrag. Ein Hartz-IV-Antrag verliert mit Ablauf des Bewilligungszeitraums seine Wirkung. Weitere Leistungen seien erst aufgrund eines Folgeantrags zu gewähren. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Behörde den Hilfebedürftigen zuvor auf die Notwendigkeit eines solchen Folgeantrages rechtzeitig und zutreffend hingewiesen habe (Hessisches Landessozialgericht, Az. L 7 AS 413/09).

Ausländer

Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) erhalten gemäß § 7 Abs. 1 SGB II Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Ausgenommen sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Eine Ausnahme von dieser Ausnahme gilt allerdings wiederum dann, wenn sich der Ausländer (hier: ein französischer Staatsangehöriger) auf die Geltung des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) vom 11.12.1953 berufen kann (BSG, 19.10.2010, Az. B 14 AS 23/10 R).

Darlehen

Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat entschieden, dass eine Zuwendung an einen Grundsicherungsempfänger (ARGE) von dritter Seite dann, wenn es sich um ein Darlehen handelt, nicht als Einkommen im Sinne des § 11 SGB II bedarfsmindernd zu berücksichtigen ist. Ein Darlehen bleibt nicht nur dann unberücksichtigt, wenn ein Dritter nur deshalb anstelle des Grundsicherungsträgers und unter Vorbehalt des Erstattungsverlangens vorläufig „eingesprungen" ist, weil der Grundsicherungsträger nicht rechtzeitig geholfen oder Hilfe abgelehnt hat. Maßgeblich ist vielmehr, ob es sich nach Auswertung aller in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls um ein rückzahlungspflichtiges Darlehen oder um eine Zuwendung ohne Rückzahlungsverpflichtung handelt (BSG, 17.06.2010, Az. B 14 AS 46/09 R).

Kindergeld

Die vollständige Anrechnung des Kindergelds als leistungsminderndes Einkommen gemäß § 11 SGB II auf Hartz IV-Leistungen ist verfassungsgemäß. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts werde auf diese Weise das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht verletzt. Auch eine nur teilweise Anrechnung - wie etwa im Einkommensteuerrecht - ist nicht geboten. Auch der allgemeine Gleichheitssatz werde nach Ansicht der Karlsruher Richter nicht verletzt (BVerfG, Beschluss vom 11.03.2010, Az. 1 BvR 3163/09).

Jugendarrest

Auch wer einen Jugendarrest nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) verbüßt, hat Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB II - Hartz IV). Die Vorschrift des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II, die solche Leistungen bei einer Freiheitsentziehung, insbesondere Haft oder Unterbringung, grundsätzlich ausschließt, gilt hier nicht. Das Sozialgericht begründete seine Entscheidung mit den Vorschriften des JGG. Das Gesetz unterscheide bei den Reaktionen auf eine Jugendstraftat zwischen Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln sowie der Jugendstrafe und sehe somit ein abgestuftes System von Ahndungen mit steigender Intensität des Eingriffs vor. Jugendarrest, der bis zu einer Dauer von vier Wochen verhängt werden könne, sei ein Zuchtmittel und damit keine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung im Sinne der Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 4 SGB II. Deshalb liefere der Jugendarrest keinen Grund dafür, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II zu verweigern (Sozialgericht Gießen, Urteil vom 01.03.2010, Az. S 29 AS 1053/09).

Private Krankenversicherung

Nicht mehr aus dem Jahr 2010, aber fast und vor allem von erheblicher Bedeutung ist die BSG-Entscheidung, dass ein privat krankenversicherter Hartz-IV-Empfänger von dem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Jobcenter) die Übernahme seiner Beiträge zur privaten Krankenversicherung in voller Höhe verlangen kann (Bundessozialgericht, 18.1.2011, B 4 AS 108/10 R).

Regelsätze

Die aktuellen Regelsätze der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II für Erwachsene und Kinder sind verfassungswidrig. Kritisiert wurde insbesondere die mangelnde Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit des Verfahrens zur Ermittlung der Regelsätze (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09).

Eigenheimzulage

Für Empfänger von Hartz IV werden gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese Kosten angemessen sind. Bewohnen die Leistungsempfänger eine in ihrem Eigentum stehende Unterkunft (z.B. Eigentumswohnung, Hausgrundstück) sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Schuldzinsen und Nebenkosten grundsätzlich nur in Höhe der Mietkosten einer vergleichbaren angemessenen Mietwohnung zu übernehmen sind. Erhalten die Grund-/Wohnungseigentümer die Eigenheimzulage, so kann deren Erhalt den tatsächlichen Wohnbedarf senken, soweit sie etwa zu einer Minderung der Schuldzinsen führt (Urteil des Bundessozialgerichts vom 18.02.2010, Az. B 14 AS 74/08 R).

Sanktionsrecht

Bei bestimmten Obliegenheitsverletzungen des Leistungsempfängers kann der Grundsicherungsträger die Grundsicherungsleistungen gem. § 31 SGB II absenken. Die Absenkung kann bis zum Wegfall des Anspruchs reichen. Die Absenkung setzt jedoch voraus, dass der Leistungsempfänger zuvor auf diese Sanktionsmöglichkeit hingewiesen wurde. Diese Rechtsfolgenbelehrung muss nach ständiger Rechtsprechung konkret, verständlich, richtig und vollständig sein. Weder die standardisiert in der Eingliederungsvereinbarung enthaltene schriftliche noch die einem Merkblatt ähnliche schriftliche Belehrung über mögliche Rechtsfolgen von Pflichtverletzungen erfüllen diese Voraussetzungen. Eine konkrete Zuordnung der Belehrung auf den Einzelfall fehlt bei einer derartigen schriftlichen Belehrung. Nicht ausreichend ist weiter der Verweis auf frühere Belehrungen oder eine mögliche Kenntnis der Rechtslage seitens des Hilfebedürftigen (SG Dortmund, Beschl. vom 05.01.2010, Az. S 22 AS 369/09 ER).

Ein Absenkungsbescheid gemäß § 31 SGB II, der damit begründet wird, dass sich der Leistungsempfänger, obwohl er sich in einer Eingliederungsvereinbarung verpflichtet hatte, einen „Ein-Euro-Job" anzunehmen, geweigert hat, einen „Ein-Euro-Job" anzunehmen, ist nur dann rechtmäßig, wenn der Betroffene ordnungsgemäß vom Grundsicherungsträger über die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung, also des Nichtannehmens der Arbeitsgelegenheit, belehrt wurde. Die Belehrung über die Rechtsfolgen muss konkret, verständlich, richtig und vollständig sein. Erforderlich ist insbesondere eine Umsetzung der in Betracht Eine bereits in der Eingliederungsvereinbarung enthaltene Rechtsfolgenbelehrung ist nicht ausreichend (Bundessozialgericht, 18.02.2010, Az. B 14 AS 53/08 R).

Schulbedarf

Gemäß § 21 Abs. 6 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Die Regelung des § 21 Abs. 6 SGB wurde vom Gesetzgeber als Reaktion auf das „Hartz-IV-Urteil" des Bundesverfassungsgericht vom 09. Februar 2010 eingeführt, in welchem die Verfassungsrichter noch das Fehlen einer Härtefallregelung im Grundsicherungsrecht bemängelt hatten. Schülerbeförderungskosten (hier: in Höhe von € 48,00/Monat), die einem Hartz IV-Empfänger für den Besuch der 11. Klasse eines Gymnasiums entstehen, können einen unabweisbaren Mehrbedarf i.S.v. § 21 Abs. 6 SGB II darstellen (Sozialgericht Gießen, 19.08.2010, Az. S 29 AS 981/10 ER).

Spesen

Viele Arbeitnehmer sind auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen, man spricht insoweit von Aufstockern. In jüngster Zeit haben die Sozialgerichte verstärkt zu klären, ob bei Aufstockern bestimmte Zahlungen des Arbeitgebers neben der Lohnzahlung überhaupt als Einkommen zu bewerten sind. Wenn ja, sind diese Zahlungen auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen. Es geht hierbei etwa um Feiertags- und Nachtarbeitszuschläge, Auslösen oder Spesenzahlungen. Im Hartz-IV-Bereich sind nur zweckbestimmte Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Das sind Einnahmen, die einem anderen Zweck als die Grundsicherungsleistungen dienen und die Lage des Empfängers nicht so günstig beeinflussen, dass daneben diese Leistungen nicht mehr gerechtfertigt wären (§ 11 Abs. 3 Nr. 1a SGB II). Bei Spesen, wie sie Lkw-Fahrer erhalten, handelt es sich um solche zweckbestimmten Einnahmen. Die vom Arbeitgeber bezahlten Spesen wirken sich daher nicht anspruchsmindernd aus (SG Chemnitz, 28.01.2010, Az. S 6 AS 2054/09).

Umweltprämie

Die Umweltprämie reduziert die Hartz-IV-Leistungen nicht. Die Abwrackprämie ist eine zweckbestimmte Einnahme, die bei der Berechnung von Hartz-IV-Leistungen nicht angerechnet werden darf (Hessisches LSG, Beschl. vom 15.01.2010, Az. L 6 AS 515/09 B ER).

Umzug

Der beklagte Grundsicherungsträger (ARGE) ist nach einem Umzug des Klägers aus Bayern zur Übernahme der Kosten der Unterkunft für eine teurere Wohnung in Berlin, deren Mietzins von 300,- € warm für Berliner Verhältnisse jedoch angemessen ist, verpflichtet. § 22 Abs. 1 Satz  2 SGB II findet bei Umzügen, die über die Grenzen des Vergleichsraums im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hinausgehen, keine Anwendung. Dies entspricht insbesondere der systematischen Stellung der Vorschrift, denn die Höhe der angemessenen Unterkunfts- und Heizkosten im Rahmen der abstrakten Angemessenheitsprüfung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II wird ebenfalls im Vergleichsraum, also im „kommunalen Bereich" ermittelt. Zudem besteht auch die Obliegenheit zur Kostensenkung bei unangemessen hohen Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II nur innerhalb dieses Vergleichsraums (Bundessozialgericht, 01.06.2010, Az. B 4 AS 60/09 R).

Unterkunft

Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat entschieden, dass ein Bezieher von Arbeitslosengeld II (Hartz IV), der nicht über eine Wohnung verfügt und stattdessen in einem Wohnmobil lebt, Unterhaltskosten für das Wohnmobil in dem für Wohnzwecke notwendigen Umfang als Kosten der Unterkunft (KdU) im Sinne des § 22 SGB II beanspruchen kann (BSG, 17.06.2010 Az. B 14 AS 79/09 R).

Rechtsanwalt Mathias Klose, Regensburg


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