Urteil des EuGH vom 30.03.2023 – C-343/22 Verfahrenseinleitendes Schriftstück und die Pflicht zur Übersetzung

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Sachverhalt


Auf Antrag der Gläubigerin stellte das Betreibungsamt Genf (Schweiz) gegen den Schuldner, welcher seinen Wohnsitz in Deutschland hat, im Jahr 2013 einen Zahlungsbefehl wegen Mietschulden zu. Der Schuldner erhob gegen den Zahlungsbefehl 2013 gemäß Art. 74 SchKG Rechtsvorschlag.


Die Gläubigerin reichte daraufhin gegen den Schuldner vor dem Gericht für Pacht- und Mietsachen des Kantons Genf (Schweiz) Klage ein, ohne eine Aufhebung des Rechtsvorschlags zu beantragen.

Dieses Gericht versuchte, die in französischer Sprache abgefasste Klageschrift am Wohnsitz des Schuldners in Deutschland zuzustellen. Der Schuldner, der die französische Sprache nicht beherrschte, verweigerte die Annahme der Zustellung, weil keine deutsche Übersetzung der Klageschrift beigefügt war.


Der Schuldner erhielt während des Prozesses keine weiteren Informationen. Mit Urteil vom Januar 2014, das öffentlich zugestellt wurde, verurteilte das schweizerische Gericht den Schuldner zur Zahlung. Der Rechtsvorschlag gegen den Zahlungsbefehl wurde in diesem Urteil nicht beseitigt.


Die Gläubigerin beantragte beim Landgericht in Deutschland die Vollstreckbarerklärung des schweizerischen Urteils in Deutschland nach Art. 38 Abs. 1 und Art. 53 des Lugano‑II-Übereinkommens. Hierzu legte sie beglaubigte und übersetzte Abschriften dieses Urteils und der Bescheinigung nach Art. 54 des Übereinkommens vor. Nachdem das Landgericht dem Antrag stattgegeben hatte, legte der Schuldner gegen diese Entscheidung Beschwerde beim Oberlandesgericht ein.


Das Oberlandesgericht wies die Beschwerde mit der Begründung zurück, dass Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens einer Anerkennung des schweizerischen Urteils nicht entgegenstehe. Der dem Schuldner 2013 ordnungsgemäß zugestellte Zahlungsbefehl sei als verfahrenseinleitendes Schriftstück anzusehen.


Der Schuldner legte gegen dieses Urteil Rechtsbeschwerde ein. Das Beschwerdegericht führt aus, der Zahlungsbefehl sei zwar ordnungsgemäß zugestellt worden, aber bei der Zustellung der Klageschrift seien die Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 1 des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen nicht eingehalten worden, da die Klageschrift nicht ins Deutsche übersetzt worden sei. Ohne eine solche Übersetzung habe die Zustellung dem Schuldner nicht ermöglicht, sich zu verteidigen.


Der BGH hat dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens dahin auszulegen, dass es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage, die nach vorangegangenem Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück handelt?


Entscheidung


Der EuGH hat entschieden: Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage nach schweizerischem Recht, die nach vorangegangenem Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne dieser Bestimmung handelt.


Im vorliegenden Fall ist eine solche Ablehnung nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zutreffend, wenn nicht der Zahlungsbefehl des Betreibungsamts, sondern die später beim Gericht eingereichte Klageschrift als verfahrenseinleitendes Schriftstück anzusehen wäre.


Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bezeichnet der Begriff des verfahrenseinleitenden oder ihm gleichwertigen Schriftstücks das Schriftstück oder die Schriftstücke, deren ordnungsgemäße und rechtzeitige Zustellung an den Antragsgegner diesen in die Lage versetzt, seine Rechte vor Erlass eines vollstreckbaren Urteils im Ursprungsstaat geltend zu machen (Urteil vom 13. Juli 1995, Hengst Import, C‑474/93, EU:C:1995:243, Rn. 19).


Auf der Grundlage dieser Definition hat der Gerichtshof einen Zahlungsbefehl deutschen Rechts, dessen Zustellung es dem Antragsteller, wenn kein Einspruch erhoben wird, ermöglicht, eine vollstreckbare Entscheidung zu erwirken (Urteil vom 16. Juni 1981, Klomps, 166/80, EU:C:1981:137Rn. 9), sowie einen zusammen mit der Antragsschrift zugestellten Mahnbescheid (decreto ingiuntivo) italienischen Rechts (Urteil vom 13. Juli 1995, Hengst Import, C‑474/93, EU:C:1995:243, Rn. 20 und 21) als verfahrenseinleitendes Schriftstück angesehen.


Dagegen hat der Gerichtshof einen Vollstreckungsbefehl deutschen Rechts, der für sich allein vollstreckbar ist und nach der Zustellung eines Zahlungsbefehls erlassen wird, nicht als verfahrenseinleitendes Schriftstück eingestuft Urteil vom 16. Juni 1981, Klomps, 166/80, EU:C:1981:137, Rn. 9).


Daraus folgt, dass im Fall der Aneinanderreihung zweier Verfahren, an deren Ende jeweils eine vollstreckbare Entscheidung in Bezug auf dieselbe Verpflichtung erwirkt werden kann, der Auslöser des ersten Verfahrens nur dann als verfahrenseinleitendes Schriftstück des zweiten Verfahrens im Sinne von Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens angesehen werden kann, wenn zwischen beiden Verfahren eine funktionelle Einheit besteht.


Im Rahmen des ersten Verfahrens kann der Schuldner gemäß Art. 74 Abs. 1 SchKG innerhalb von zehn Tagen Rechtsvorschlag gegen den Zahlungsbefehl erheben. Der Rechtsvorschlag bewirkt die Einstellung des Verfahrens vor dem Betreibungsamt und zwingt den Gläubiger, die Gerichte anzurufen. Nach Art. 79 SchKG kann der Gläubiger die Fortsetzung der Betreibung nur aufgrund eines vollstreckbaren Entscheids erwirken, der den Rechtsvorschlag ausdrücklich beseitigt. Im Rahmen eines in der Folge eingeleiteten ordentlichen Forderungsprozesses kann das Gericht zugleich über die Aufhebung des Rechtsvorschlags entscheiden.


Das zweite Verfahren – die gerichtliche Forderungsklage – ist gegenüber dem Schuldbetreibungsverfahren eigenständig. Zwar zielt die gerichtliche Forderungsklage auf die Begleichung einer Schuld ab, die Gegenstand einer Betreibung mittels eines Zahlungsbefehls gemäß den Art. 38, 67 und 69 SchKG war. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zielt die Erhebung der Forderungsklage ohne Antrag auf Beseitigung des Rechtsvorschlags jedoch nicht auf die Beendigung des durch den Rechtsvorschlag, der seinerseits keine notwendige Vorbedingung für die Forderungsklage ist, ausgesetzten Schuldbetreibungsverfahrens ab.


Da die Beseitigung des Rechtsvorschlags im Zivilprozess über die Forderungsklage nicht beantragt wurde, ist davon auszugehen, dass zwischen dem Betreibungsverfahren und der gerichtlichen Forderungsklage keine funktionelle Einheit besteht, bei deren Vorliegen der Zahlungsbefehl als verfahrenseinleitendes Schriftstück im Sinne von Art. 34 Nr. 2 des Lugano‑II-Übereinkommens angesehen werden könnte.


Monique Bocklage

Rechtsanwältin & Solicitor of England & Wales (non-pr.)

Fachanwältin für internationales Wirtschaftsrecht




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