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Die Verhältnismäßigkeit: So schützt sie die Grundrechte

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Die Verhältnismäßigkeit: So schützt sie die Grundrechte

Experten-Autor dieses Themas

Unter Verhältnismäßigkeit versteht man rechtlich die Angemessenheit einer Handlung. Als grundlegendes Prinzip gilt sie in Bereichen, in welchen zwischen widerstreitenden Interessen ein Ausgleich geschaffen werden muss. Die für das Recht traditionell angeführte Göttin Justitia trägt symbolisch stets eine Waage, die sich im Zweifel zum Schwächeren neigt. 

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beziehungsweise das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird als grundlegendes rechtliches Institut in vielen Gesetzen zitiert. Als Merkmal des Rechtsstaates wird es allgemein aus Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) abgeleitet. Nach Art. 20 Abs. 3 ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. 

Wie und weshalb ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entstanden?

Sinn und auch Zweck der Verhältnismäßigkeit ist es, dass der Einzelne in seinen verfassungsmäßig verbürgten Grundrechten vor Eingriffen des Staates geschützt werden soll. In Deutschland ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz historisch vor dem Hintergrund der Ermächtigung und Gleichschaltung durch das nationalsozialistische Regime von 1933 bis 1945 begründet.  

Aus den Erfahrungen des totalitären Systems entstand die heutige Verwaltungsgerichtsbarkeit, die dem Bürger ermöglichen soll, sich mit Rechtmitteln und Rechtbehelfen mit Stärke gegen Maßnahmen des Staates zur Wehr zu setzen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz findet im Verwaltungsrecht seinen Hauptanwendungsbereich.  

Vierstufige Prüfung der Verhältnismäßigkeit

Maßnahmen, die beispielsweise durch ein Gesetz, Urteil oder einen Verwaltungsakt Grundrechte verletzen oder tangieren, müssen verhältnismäßig sein. Dies bedeutet, dass sie einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein müssen. 

Legitimität 

Ein legitimer Zweck ist grundsätzlich in allen öffentlichen Interessen zu sehen. Der Schuss eines Polizeibeamten kann somit zur Abwehr einer Straftat legitim sein. Dies ist beim Einsatz gegen Terroristen oder auch gegen Diebe grundsätzlich legitim. Wenn ein Zweck jedoch schon gegen die Wertung des Grundgesetzes verstößt, ist er nicht legitim. 

Eignung 

Im zweiten Schritt ist zu prüfen, ob die Maßnahme geeignet ist. Dies ist stets der Fall, wenn sie die Erreichung des Zwecks bewirkt. Ist dies nicht der Fall, ist die Geeignetheit aber zu bejahen, wenn der Zweck zumindest gefördert wird. Eine behördliche Schließung eines Betriebs wäre beispielsweise geeignet, Schadstoffausstoß zu vermeiden. 

Erforderlichkeit 

In einem dritten Schritt ist zu prüfen, ob die Maßnahme erforderlich ist. Dies ist der Fall, wenn kein milderes Mittel als die Maßnahme zu Verfügung steht, um den Zweck zu erreichen. Bei der Erforderlichkeit kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darauf an, ob „bei dem als Alternative vorgeschlagenen geringeren Eingriff in jeder Hinsicht eindeutig feststeht“, dass er den fraglichen Zweck „sachlich gleichwertig erreicht“ (Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 105, 17/36). Es muss sich auch um genau diesen Zweck und nicht um einen fast gleichen, ähnlichen Zweck handeln.  

Eine behördliche Betriebsschließung ist im genannten Beispiel nicht erforderlich, da eine Reduzierung des Schadstoffausstoßes ebenso durch eine Rauchgasreinigung erreicht werden kann. Der Schuss des Polizeibeamten ist auch erforderlich, soweit situationsbedingt in der Schnelle kein anderes Mittel zur Verfügung steht. 

Verhältnismäßigkeit 

In einem vierten Schritt ist die Maßnahme auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn zu prüfen. Eine Abwägung zwischen Mittel und Zweck ist stets durchzuführen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf der Zweck nicht außer Verhältnis zu seinen Auswirkungen stehen (BVerfGE 92,277/327). 

Nach dem für Grundrechtseingriffe höchstrichterlich zuständigem Bundesverfassungsgericht ist einerseits „die Art und Schwere der Beeinträchtigung“ festzustellen (BVerfGE 113,63/80). Somit sind vor allem Verfassungsrechte, insbesondere die Grundrechte, zu berücksichtigen. Der tödliche Schuss eines Polizeibeamten ist zur Bekämpfung von Terroristen oder Schwerkriminellen verhältnismäßig, nicht jedoch, um einem Dieb, der nur wegen eines Vergehens strafbar ist, die Flucht zu vereiteln.  

Weiterhin ist dem Bundesverfassungsgericht zufolge relevant, „unter welchen Voraussetzungen und wie viele Grundrechtsträger wie intensiven Beeinträchtigungen ausgesetzt sind“ (BVerfGE 100,313/376). Je mehr eine Maßnahme in ein Grundrecht eingreift, desto wichtiger ist die Erreichung des Zwecks. Hierbei sind die Vorteile den Nachteilen gegenüberzustellen und abzuwägen. 

Verhältnismäßigkeit im Polizeirecht

Im Polizeirecht ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den meisten Ländergesetzen in § 4 Polizeiaufgabengesetz (PAG) kodifiziert. Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat die Polizei demnach gemäß § 4 Abs. 1 PAG diejenige zu treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt.  

Eine Maßnahme darf nach Abs. 2 nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. Eine Maßnahme ist gemäß Absatz 3 nur so lange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. Beispielsweise ist eine Festnahme von Demonstrationsteilnehmern nur so lange verhältnismäßig, bis die Gefahr – etwa durch Auflösung der Veranstaltung – vorüber ist. 

Verhältnismäßigkeit im Strafrecht

Selbstverständlich hat das Prinzip gerade im Bereich des Strafrechts, in dem der Staat seinen Bürgern mit erheblichen Grundrechtseingriffen gegenübertritt, wichtige Bedeutung erlangt. Im Strafrecht findet man den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beispielsweise in § 62 Strafgesetzbuch (StGB). Gemäß § 62 StGB darf eine Maßregel der Besserung und Sicherung nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht. 

Bei Rechtfertigungsgründen nach § 34 StGB ist der Grundsatz unter anderem bei der Abwägung zu beachten. Die Gefahr muss nicht anders abwendbar sein als durch die Begehung der Tat (vgl. Bundesgerichtshof, BGH 5, 375; 18, 311). Die Tat muss demzufolge geeignet und erforderlich sein, die Gefahr abzuwenden (vgl. BGH 2, 242,245). Eine andere Abwendbarkeit ist gegeben, wenn rechtzeitig staatliche Hilfe etwa durch Zuhilfenahme oder Alarmierung der Polizei oder einer anderen Behörde möglich ist. 

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Coronakrise

Viele Maßnahmen der Landesregierungen und Kommunalbehörden wurden von den Gerichten aufgehoben, weil sie sich als unverhältnismäßig darstellten. Während Kontaktbeschränkungen und die Schließung von Gastronomie und Sportstätten in Sachsen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22.11.2022 rechtmäßig eingestuft wurden, waren die Ausgangsbeschränkungen in Bayern im März 2020 nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts nicht verhältnismäßig und somit rechtswidrig. 

Nach der Rechtsverordnung in Bayern, die nicht vom Parlament, sondern nur von der Regierung beschlossen wurde, war ein Verlassen der Wohnungen nur aus bestimmten wichtigen Gründen zulässig. Hierzu wurden die Wege zur Arbeit, zum Arzt und zum Besuch enger Angehöriger gezählt. Auch das Ausführen von Hunden, sportliche Betätigung im Freien oder Einkäufe von Nahrungsmitteln waren vom Verbot ausgenommen. Der bloße Aufenthalt im Freien war in Bayern untersagt. Ob dies allein oder nur mit Haushaltsangehörigen erfolgte, war unerheblich. Nach Feststellung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs war dies zur Eindämmung des Coronavirus bereits aus damaliger Sicht nicht erforderlich. 

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei einzelnen Maßnahmen

Bei Einzelfallentscheidungen der Verwaltung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eigenständig zu beachten, sofern der Verwaltung ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Prognosen sind im Gegensatz zum Gesetzgeber hier vollständig gerichtlich überprüfbar. In diesem Bereich sind in der Coronakrise viele Gerichtsentscheidungen zur Maskentragepflicht, zu Coronaspaziergängen und anderen Maßnahmen ergangen. 

Foto(s): ©Adobe Stock/travelview

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