Ausländerrecht: Ein Elternnachzug ist noch möglich, wenn das Bezugskind inzwischen volljährig geworden ist

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Am 01.08.2022 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) entschieden, dass Deutschland gegen das EU-Recht verstößt. Gemeint ist die Praxis der Auslegung und Anwendung des § 36 Abs. 1 des deutschen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), wonach den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine in der Norm aufgezählte Aufenthaltserlaubnis besitzt, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil in Deutschland aufhält.

Die deutsche Rechtsprechung und Teile der Lehre gingen bislang davon aus, dass es für den Nachzugsanspruch der Eltern nicht auf das Alter des Kindes bei Antragstellung, sondern bei der ggf. gerichtlichen Entscheidung über den Antrag ankommt, weil das Nachzugsrecht alleine dem Schutz des Minderjährigen dient. Dies bedeutete, dass der Anspruch der Eltern auf Familienzusammenführung mit einem in Deutschland lebenden unbegleiteten Minderjährigen erlischt, wenn das Kind inzwischen volljährig wird (BVerwG Urteil v. 18.04.2013, NVwZ 2013, 1344, 1345).

Der EuGH hatte aber bereits im Jahr 2018 entschieden (EuGH ZAR 2019, 433 ff.), dass die entsprechenden Bestimmungen der Familienzusammenführungs-Richtlinie dahingehend auszulegen sind, dass ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Land unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne der Bestimmung anzusehen ist.


Im Lichte dieser Entscheidung des EuGH ging das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg nunmehr davon aus, dass die Annahme des BVerwG im Urteil vom 18.4.2013 (s. o.) sich nicht mehr aufrechterhalten lässt. Auf die Revision der Bundesrepublik hin hat das BVerwG ein Vorabentscheidungsersuchen zur Frage, ob ein unmittelbarer Anspruch eines Elternteils auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Familienzusammenführungs-RL besteht, wenn das als Flüchtling anerkannte Kind inzwischen volljährig geworden ist, an den EuGH gerichtet (BVerwG Beschl. v. 23.04.2020, 1 C 9.19, ZAR 2020, 259).

Auf dieses Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG hat nun der EuGH entschieden, dass die deutsche Praxis der Anwendung des § 36 Abs. 1 AufenthG europarechtswidrig ist (EuGH, Urt. v. 01.08.2022, Az. C-273/20 und C-355/20): Der Anspruch der Eltern eines in Deutschland lebenden Kindes auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bleibt bestehen, auch wenn das minderjährige Kind im Laufe des Verfahrens volljährig wird. Der EuGH stellt damit klar, dass es nur auf den Zeitpunkt der Antragstellung ankommen kann.

Die Entscheidung des EuGH hat zur Folge, dass ein inzwischen volljährig gewordener Ausländer im Wege richtlinienkonformer Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG als „Minderjähriger“ angesehen werden muss, so dass deutsche Auslandsvertretungen die Erteilung eines Visums an seine Eltern zur Familienzusammenführung wegen zwischenzeitlichen Eintritts der Volljährigkeit des ehemals Minderjährigen nicht mehr ablehnen dürfen. Diese Möglichkeit des Elternnachzugs besteht jedoch nur dann, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten ab dem Tag, an dem die Flüchtlingsanerkennung erfolgte, gestellt wurde.


[Detailinformationen: RA Dr. Gor Hovhannisyan, LL. M., Mag. rer. publ., Tätigkeitsschwerpunkte Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht, Telefon 0351 80718-20, hovhannisyan@dresdner-fachanwaelte.de]


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