Bezahlung von Überstunden - verschieben sich die Gewichte?

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Wenn Arbeitnehmer die Bezahlung von Überstunden verlangen, müssen sie darlegen und beweisen, dass sie diese Überstunden auch tatsächlich geleistet haben. Außerdem müssen sie darlegen und beweisen, dass die geleisteten Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, genehmigt/abgezeichnet oder geduldet wurden oder dass sie zumindest notwendig waren. In der Praxis scheitert die Nachweisführung oftmals, da die geleisteten Überstunden und/oder ihre Veranlassung nicht ausreichend dokumentiert sind. In Deutschland gibt es bislang keine gesetzliche Pflicht für alle Arbeitgeber, die Arbeitszeiten aller ihrer Arbeitnehmer zu erfassen. Eine Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit gibt es bislang nur punktuell:

-  Pflicht zur Aufzeichnung von Mehrarbeit i.S.d. Arbeitszeitgesetzes (ArbZG), d.h. nur die über 8 Stunden täglich hinausgehende Arbeitszeit und jede Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen muss aufgezeichnet werden (§ 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG), wobei diese Pflicht nicht bei leitenden Angestellten besteht;

-  Pflicht zur Aufzeichnung der gesamten Arbeitszeit bei geringfügig Beschäftigten und bei Arbeitgebern bestimmter Branchen (§ 17 Abs. 1 Mindestlohngesetz, § 2a SchwarzArbG);

-  erweiterte Aufzeichnungspflichten für Arbeitgeber von Berufskraftfahrern (§ 21a ArbZG).    

Wenn es in einem Unternehmen keine Arbeitszeitaufzeichnung gibt (sog. Vertrauensarbeitszeit), haben die Arbeitnehmer hingegen kaum eine Möglichkeit die geleisteten Überstunden und/oder deren Veranlassung nachzuweisen. Exemplarisch dazu der folgende Fall:

Eine Mitarbeiterin war vom 01.08.2015 bis zum 31.07.2018 als Pflegehelferin bei dem Betreiber eines mobilen Pflegedienstes beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch Eigenkündigung der Mitarbeiterin. Nach ihrem Ausscheiden verlangte die Mitarbeiterin die Vergütung von 565,54 Überstunden (9.908,26 EUR), die sie von August 2016 bis Juli 2018 geleistet habe. Zum Beweis legte sie ihre eigenen Aufzeichnungen vor, wonach sie von August 2016 bis Juli 2018 insgesamt 2.215,54 Stunden gearbeitet habe. Sie meinte, der Arbeitgeber sei verpflichtet, die sich aus ihren Aufzeichnungen ergebenden 565,54 Überstunden mit dem Stundenlohn von 17,52 EUR zu vergüten. Der Arbeitgeber bestritt die Leistung der Überstunden. Das Gericht gab dem Arbeitgeber Recht und wies die Klage ab. Die Mitarbeiterin hatte nicht ausreichend dargelegt, in den 24 Monaten vom 01.08.2016 bis zum 31.07.2018 Überstunden geleistet zu haben. Ihre eigenen Aufzeichnungen genügten nicht als Nachweis. Verlangt ein Arbeitnehmer Arbeitsvergütung für Überstunden, muss er nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts darlegen und im Bestreitensfall beweisen, dass er die Überstunden tatsächlich verrichtet hat. Dabei reicht es nicht aus, für jeden Monat die Zahl der angeblichen Überstunden bzw. Gesamtstunden anzugeben. Vielmehr muss der Arbeitnehmer im ersten Schritt genau mitteilen, wann die Überstunden tatsächlich geleistet wurden und dies bei Bestreiten des Arbeitgebers auch noch beweisen. Arbeitnehmer haben es zudem nicht in der Hand, einfach mehr als notwendig zu arbeiten und dadurch vergütungspflichtige Überstunden aufzubauen. Eine Vergütung von Überstunden schuldet der Arbeitgeber nämlich nur dann, wenn er oder die Vorgesetzten des Arbeitnehmers die Überstunden ausdrücklich angeordnet oder zumindest in Kenntnis der Überstunden deren Ableistung duldend hingenommen haben. Der Arbeitnehmer muss also zur Begründung seines Anspruchs auf Überstundenvergütung auch noch vortragen und ggf. beweisen, welche Arbeitsleistung er in der fraglichen Zeit erbracht hat und wer ihn zur Leistung der Überstunden angewiesen hat bzw. wer von der Leistung der Überstunden wusste und sie geduldet hat. All dies hatte die Mitarbeiterin nicht getan (Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urt. v. 07.05.2020, Az. 5 Sa 314/19). Besonderheiten gelten insoweit nur für Kraftfahrer, die Überstundenvergütung verlangen, da bei diesen eine Zeiterfassung durch den Arbeitgeber gesetzlich vorgeschrieben ist. Ein Kraftfahrer, dem vom Arbeitgeber bestimmte Touren zugewiesen werden, muss lediglich darlegen, an welchen Tagen er welche Tour wann begonnen und wann beendet hat. Sodann muss der Arbeitgeber unter Auswertung der Arbeitszeitaufzeichnungen gemäß § 21a Abs. 7 Satz 1 Arbeitszeitgesetz darlegen, an welchen Tagen der Arbeitnehmer aus welchen Gründen im geringeren zeitlichen Umfang als von ihm behauptet gearbeitet habe (vgl. z.B. Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 20.10.2020, Az. 5 Sa 48/20).

Diese - für betroffene Arbeitnehmer frustrierende - Rechtslage könnte sich nunmehr zum Nachteil der Arbeitgeber ändern. Dies liegt an der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Dieser hatte nämlich vor zwei Jahren entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet werden müssen, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Dadurch soll sowohl den Arbeitnehmern der Nachweis einer Verletzung der gesetzlichen Arbeitszeitvorgaben als auch den zuständigen Behörden und nationalen Gerichten die Kontrolle der Beachtung der Gesetze erleichtert werden (sog. CCOO-Urteil des EuGH vom 14.05.2019, Az. C-55/18). Der EuGH verlangt ein objektives, verlässliches und zugängliches System, mit dem die Arbeitszeit aufgezeichnet werden kann. In welcher Form die Arbeitszeit erfasst wird (z.B. durch Stempeluhrenkarte, per Smartphone-App oder schlicht mit Stundenzetteln), gibt der EuGH nicht vor. Nach allgemeiner Auffassung muss die Entscheidung des EuGH vom deutschen Gesetzgeber erst umgesetzt werden, was möglicherweise durch eine Anpassung der bisherigen gesetzlichen Regelung in § 16 Abs. 2 ArbZG dahingehend erfolgen wird, dass künftig nicht nur Mehrarbeit, sondern die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmer erfasst werden muss. Ganz überwiegend wird davon ausgegangen, dass die deutschen Arbeitgeber erst nach der Gesetzesanpassung ein entsprechendes Zeiterfassungssystem einführen müssen. Dies wird jedoch teilweise auch anders gesehen, wie der folgende Fall zeigt:

Eine Mitarbeiterin arbeitete als kaufmännische Angestellte in Vertrauensarbeitszeit bei einem Arbeitgeber. Sie erfasste ihre geleistete Arbeitszeit zwar mittels einer von dem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Software. Ihre Arbeitszeitaufzeichnungen wurden aber von dem Arbeitgeber unter Hinweis auf die Vertrauensarbeitszeit nicht kontrolliert oder gar abgezeichnet. Nach ihrer Eigenkündigung verlangte die Mitarbeiterin die Vergütung von rund 1.000 Überstunden. Der Arbeitgeber meinte, die Überstunden seien nicht von ihm veranlasst worden, insbesondere nicht geduldet gewesen, und daher nicht zu vergüten. Der Fall landete beim Arbeitsgericht Emden, das überraschenderweise der Mitarbeiterin Recht gab und den Arbeitgeber zur Zahlung verurteilte. Das Gericht war der Meinung, dass der Arbeitgeber die Überstunden vorliegend geduldet habe, obwohl er von den Überstunden möglicherweise nichts gewusst hatte. Die bisher vom Bundesarbeitsgericht geforderte positive Kenntnis des Arbeitgebers von der Leistung der Überstunden als Voraussetzung der Duldung sei nach Meinung des Gerichts infolge des CCOO-Urteils des EuGH nicht mehr erforderlich, wenn sich der Arbeitgeber die Kenntnis der Arbeitszeiten durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung, zu deren Überwachung/Kontrolle er verpflichtet sei, verschaffen könne. Letztlich genüge also die Möglichkeit zur Kenntnisnahme der Überstunden. Der Vortrag des Arbeitgebers, er habe aufgrund der Vertrauensarbeitszeit die Arbeitszeiterfassung nicht kontrolliert, genüge daher nicht, um eine Duldung/Veranlassung der Überstunden zu widerlegen. Das Gericht geht in dem Urteil davon aus, dass die deutschen Arbeitgeber bereits jetzt zu einer Erfassung der Arbeitszeit entsprechend den Vorgaben des CCOO-Urteils des EuGH verpflichtet sind, nämlich aus § 618 Abs. 1 BGB (Pflicht zum Schutz der Arbeitnehmer vor Gesundheitsbeeinträchtigungen) in europarechtskonformer Auslegung und aus einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht  gemäß § 241 Abs. 2 BGB (Arbeitsgericht Emden, Urt. v. 24.09.2020, Az. 2 Ca 144/20). 

Im Ergebnis führt die Auffassung des Arbeitsgerichts Emden zu einer Verschiebung der Darlegungslast bei Streitigkeiten über die Bezahlung von Überstunden zum Nachteil der Arbeitgeber. Auch wenn die Begründung des Emdener Urteils nicht überzeugt, da die Entscheidung des EuGH tatsächlich erst der Umsetzung durch den Gesetzgeber bedarf und mit § 618 BGB keine über die aktuellen Gesetzesregelungen hinausgehende Pflicht zur Dokumentation der Arbeitszeit begründet werden kann, müssen Arbeitgeber gleichwohl die weitere Entwicklung beobachten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich andere Gerichte der Auffassung des Arbeitsgerichts Emden anschließen und es so zu einer Verschiebung der Gewichte in Überstundenprozessen kommt.

Tipp: Zur Begrenzung des Risikos von Nachzahlungen für Überstunden sollten die Arbeitsverträge unbedingt wirksame Verfallsfristen enthalten, mit denen die ansonsten geltende dreijährige Verjährungsfrist für Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, zu denen auch Ansprüche auf Überstundenvergütung gehören, praktisch bis auf drei Monate abgekürzt werden können.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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