Bundesgerichtshof: Widerrufsrecht kann auch bei individuell angefertigten Leistungen gelten

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BGH, Urteil vom 19.10.2021, Az. I ZR 96/20

Der Bundesgerichtshof hat in steter Fortentwicklung seiner sehr weitreichenden Rechtsprechung zum Widerrufsrecht nunmehr entschieden, dass Verbraucher über das ihnen zustehende gesetzliche Widerrufsrecht auch dann zu informieren sind, wenn diese einen Vertrag über die Lieferung und Montage eines eigens angepassten Kurventreppenlifts abschließen, für den eine passende Laufschiene angefertigt und in das Treppenhaus des Kunden eingepasst werden muss.

Hintergrund

Bei Verträgen außerhalb der Geschäftsräume (§ 312b BGB) oder Fernabsatzverträgen (§ 312c BGB) ist ein Verbraucher von einem Unternehmer über sein 14-tägiges Widerrufsrecht zu belehren. Geschieht dies nicht, kann der Verbraucher noch nach einem Jahr und 14 Tagen einen bereits begonnen oder sogar vollendeten Vertrag widerrufen, § 356e BGB.

Eine solche Belehrung hat aber nur bei gewissen Verträgen zu erfolgen, nämlich "Verträge zur Lieferung von Waren". Dies ist im Hinblick auf die europäische Verbraucherrechtrichtlinie dahingehend auszulegen, dass hierunter Kaufverträge (§ 433 BGB) und Werklieferungsverträge (§ 650 BGB) fallen, nicht aber Dienstverträge (§ 611 BGB) oder im gewissen Maße Werkverträge (§ 631 BGB) zählen.

Eine Belehrung muss aber dann nicht erfolgen, bei Verträgen zur Lieferung von Waren, die individuell angefertigt werden und auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind, § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB. Wenn Waren also personalisiert werden für den Kunden, sagt der Gesetzgeber, dass hier eine Belehrung nicht erforderlich sei und der Kunde nur die allgemeinen Regeln zur Loslösung hat, wie z.B. den Rücktritt. Die Frage ist nur, wie weit eine solche Individualisierung reicht und wo die Grenze zu ziehen ist. Hier hat der Bundesgerichtshof für Klarheit gesorgt.  

Zum Fall:

Ein Unternehmen vertreibt Kurventreppenlifte. Dabei handelt es sich um Treppenlifte mit Schienen, die individuell an die im Treppenhaus zu befahrenden Kurven angepasst werden. Es ist der Auffassung, dass für diese Art von Produkten kein gesetzliches Widerrufsrecht bestünde.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat entgegen der Auffassung des Unternehmens geurteilt, dass dieses sehr wohl über ein Widerrufsrecht belehren müsste. Die Werbung des Unternehmens mit der Angabe, im Falle eines Kurventreppenlifts mit individuell geformten und an die Gegebenheiten vor Ort angepassten Laufschienen bestehe kein Widerrufsrecht des Verbrauchers, verstoße u.a. gegen Art. 246a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EGBGB, nach denen über das nach § 312g Abs. 1 BGB bestehende Widerrufsrecht zu informieren ist.

Der Schwerpunkt des angestrebten Vertrags besteht in der Herstellung eines funktionstauglichen Werks, das zu einem wesentlichen Teil in der Anfertigung einer passenden Laufschiene und ihrer Einpassung in das Treppenhaus des Kunden besteht. Auch der hierfür, an den individuellen Anforderungen des Bestellers ausgerichtete, erforderliche Aufwand spricht für das Vorliegen eines Werkvertrags. Bei der Bestellung eines Kurventreppenlifts, der durch eine individuell erstellte Laufschiene auf die Wohnverhältnisse des Kunden zugeschnitten wird, steht für den Kunden nicht die Übereignung, sondern der Einbau eines Treppenlifts als funktionsfähige Einheit im Vordergrund, für dessen Verwirklichung die Lieferung der Einzelteile einen zwar notwendigen, aber untergeordneten Zwischenschritt darstellt.

Daher stehe dem Besteller auch ein Widerrufsrecht zu, der Ausschluss nach § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB greife nicht.

Damit wird die Grenze deutlich gesteigert hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang muss ein Produkt an den Bedürfnissen des Verbrauchers ausgelegt sein. Individuelle Elemente schließen die gesetzlichen Anforderungen zum Widerrufsrecht nicht aus. Entscheidend ist der Schwerpunkt der erbrachten Leistung.



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