Die häufigsten Irrtümer im Strafverfahren und bei der Strafverteidigung

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Der Autor ist ausschließlich als Fachanwalt für Strafrecht tätig und verteidigt bundesweit bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sowie im Rahmen von Gerichtsverfahren. Eine effektive Strafverteidigung beginnt hierbei zum frühestmöglichen Zeitpunkt, idealerweise bereits auf Ebene der polizeilichen Ermittlungen. Die Erfahrung bei der Strafverteidigung zeigt, dass oftmals gefährliches Halbwissen bzw. Unwissen im Zusammenhang mit Strafverfahren besteht, welches im ungünstigsten Fall erhebliche negative Konsequenzen haben kann.

Nachfolgend daher einige der häufigsten Irrtümer im Zusammenhang mit Ermittlungsverfahren im Strafrecht:

1. Der Vorgang ist nur bei der Polizei, vielleicht wird die Staatsanwaltschaft nicht eingeschaltet

Häufig wird die Frage gestellt, ob die Staatsanwaltschaft überhaupt involviert wird oder der Vorgang möglicherweise auf polizeilicher Ebene eine Erledigung findet. Diese Vorstellung ist unzutreffend. Sobald Sie Beschuldigter einer Straftat sind, kommt die Staatsanwaltschaft zwangsläufig ins Spiel. Die Polizei führt zwar die Ermittlungen und nimmt Befragungen vor. Eine Sachentscheidungskompetenz im Hinblick auf eine mögliche Einstellung des Verfahrens, die Beantragung eines Strafbefehls oder die Erhebung einer öffentlichen Anklage hat sie indes nicht. Alleine die Staatsanwaltschaft ist befugt eine sogenannte Abschlussverfügung zu treffen.

Denkbar ist in diesem Zusammenhang etwa eine Verfahrenseinstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO mangels Tatverdachts, eine Erledigung gem. §§ 153, 153a StPO wegen Geringfügigkeit, die Verweisung auf den Privatklageweg, die Beantragung eines Strafbefehls bei Gericht oder die Anklageerhebung zum Amtsgericht oder Landgericht. Dies bedeutet, dass strafrechtliche Ermittlungsverfahren immer (!) bei der jeweils zuständigen Staatsanwaltschaft landen. Hieran wird auch deutlich, dass bereits in diesem Verfahrensstadium mit der Strafverteidigung begonnen werden sollte, da hierdurch natürlich eine Einflussnahme auf die Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft möglich ist.

2. Es läuft „nur“ ein Ermittlungsverfahren, ich bin also überhaupt kein Beschuldigter

Es kommt immer wieder vor, dass der Begriff eines „Ermittlungsverfahrens“ falsch verstanden wird. Sobald Sie eine Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung in einem Ermittlungsverfahren erhalten, sind Sie auch „Beschuldigter der Straftat“. Dies bedeutet, dass ein Anfangsverdacht gegen Sie besteht und daher die strafrechtlichen Ermittlungen bereits aufgenommen wurde. Das Wort „Ermittlungsverfahren“ kann daher durchaus mit dem Begriff „Strafverfahren“ gleichgesetzt werden. Die Annahme, es könne sich um ein „Prüfungsverfahren“ oder ein „Vorverfahren“ handeln, würde einen in falscher Sicherheit wiegen.

3. Ich muss zur Beschuldigtenvernehmung bei der Polizei erscheinen

In sehr vielen Fällen wird der Beschuldigte einer Straftat erstmals durch ein polizeiliches Vorladungsschreiben mit dem Vorwurf konfrontiert. Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit hat der Autor bereits zahllose Vorladungen aus dem gesamten Bundesgebiet zu Gesicht bekommen, wobei der Aufbau dieser Schreiben in den allermeisten Fällen insofern gleich ist, als das Wort „Vorladung“ häufig besonders dick gedruckt und hervorgehoben ist, wobei zumeist auch gleich ein Vorladungstermin bestimmt wird. Die rechtlichen Belehrungen sowie der Hinweis, dass auch ein Verteidiger beauftragt werden kann, sind in aller Regel nur äußerst klein gedruckt bzw. in manchen Fällen überhaupt nicht enthalten. Obgleich der Aufbau eines polizeilichen Vorladungsschreibens den Eindruck erwecken kann, es bestünde eine Verpflichtung zum Erscheinen, ist eine solche gerade nicht gegeben. Etwas anderes würde sich dann ergeben, wenn die Vorladung vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft ausgesprochen wird.

Die sinnvollste Verhaltensweise besteht darin, bei einer solchen Beschuldigtenvorladung professionellen anwaltlichen Rat einzuholen und gegebenenfalls durch den Strafverteidiger den Vorladungstermin absagen sowie umfassende Akteneinsicht beantragen zu lassen. Auch wenn keine Verpflichtung des Beschuldigten zum Erscheinen bei der Polizei besteht, sollte eine solche Vorladung nicht völlig ignoriert bzw. als nicht existent behandelt werden. Erfolgt keine Terminswahrnehmung durch den Beschuldigten und auch keine Mandatierung eines Anwalts, wird von dem Polizeibeamten zumeist in die Akte geschrieben, dass der Beschuldigte nicht erschienen sei und davon auszugehen ist, dass sich dieser nicht äußern wolle. In diesem Fall entscheidet die Staatsanwaltschaft dann rein nach Aktenlage, ohne dass die eigenen Argumente in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht gewürdigt werden konnten.

4. Ich darf nicht lügen

Doch, Sie dürfen, jedenfalls in einem gewissen Rahmen. Während Zeugen in einem Ermittlungsverfahren bzw. Strafverfahren der Wahrheitspflicht unterliegen, gilt dies nicht für den Beschuldigten einer Straftat. Diesem ist es erlaubt, den Tatvorwurf zu bestreiten, auch wenn die Tat in Wirklichkeit begangen wurde. Zulässig ist es außerdem, komplett die Aussage zu verweigern, ohne dass hierdurch negative Rückschlüsse gezogen werden dürfen. Nicht erlaubt ist es hingegen, andere Personen bewusst falsch zu verdächtigen oder Zeugen zu unrichtigen Angaben zu veranlassen. In einem solchen Fall wäre das zulässige Verteidigungsverhalten unzweifelhaft überschritten. Sie können den Tatvorwurf allerdings in Abrede stellen, auch wenn Sie sich falsch verhalten haben sollten.

5. Vor Gesetz sind alle gleich

Der Anspruch, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, ist dem Grunde nach natürlich zutreffend. In der Praxis existieren allerdings zahlreiche Faktoren, welche dazu führen, dass bei vergleichbaren Fallkonstellationen völlig unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden können. Hierzu zählen beispielsweise die jeweiligen persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten, die Rechtsprechungspraxis im jeweiligen Gerichtsbezirk sowie die Qualität der Strafverteidigung. So können mögliche Strafmilderungsgründe nur dann berücksichtigt werden, wenn diese der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht auch bekannt sind. Auch gelingt es immer wieder die eigene Verhandlungsposition dadurch zu stärken, indem rechtliche Probleme und Fragestellungen aufgeworfen werden, auf welche bislang kein Augenmerk gelegt wurde. Selbst in Fallkonstellationen, bei denen ein Tatnachweis eigentlich möglich ist, kann mitunter ein deutlich besseres Resultat erreicht werden, wenn z. B. Rechtsausführungen zur Frage der Ordnungsgemäßheit einer Belehrung, der rechtlichen Einordnung der Tat, über das Zustandekommen von gerichtlichen Durchsuchungsbeschlüssen oder hinsichtlich der Verwertbarkeit einer Blutprobe gemacht werden.

6. Man macht sich verdächtig, wenn man schweigt

Diese Vorstellung ist unrichtig. Der Beschuldigte eines Strafverfahrens hat das Recht, die Aussage zu verweigern. Sein Schweigen darf gerade nicht negativ gewichtet werden. Sofern ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt wird, sollte daher zunächst vom Schweigerecht Gebrauch gemacht und mit einem geeigneten Strafverteidiger sodann die weitere Vorgehensweise erörtert werden. In aller Regel wird der im Strafrecht tätige Rechtsanwalt Akteneinsicht beantragen und gemeinsam mit dem Mandanten die Verteidigungstaktik und Verteidigungsstrategie erörtern, sobald die Akte in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht umfassend geprüft werden konnte. Ausgehend vom Inhalt der Ermittlungsakte und der Sachverhaltsdarstellung des Beschuldigten wird sodann gemeinsam mit diesem entschieden, ob weiterhin geschwiegen werden soll oder – was häufig der Fall ist – ob durch den Verteidiger eine Verteidigungsschutzschrift vorgenommen wird. Diese kann sodann eigene Ausführungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht enthalten bzw. mit Beweisanträgen verbunden sein.

7. Das Verfahren ist erledigt, wenn die Strafanzeige zurückgenommen wird

So einfach ist das leider nicht. Sobald die Polizei oder die Staatsanwaltschaft Kenntnis von einer Straftat erlangt, muss grundsätzlich ermittelt werden. In diesem Zusammenhang gibt es einen Unterschied zwischen Offizialdelikten und sogenannten Antragsdelikten. Bei absoluten Antragsdelikten, etwa bei dem Tatvorwurf eines Hausfriedenbruchs oder einer Beleidigung ist es so, dass bei einer Rücknahme des Strafantrags der Vorgang nicht mehr weiterverfolgt werden kann. Dies betrifft allerdings die allerwenigsten Straftatbestände. Viel häufiger als diese sogenannten absoluten Antragsdelikte sind die relativen Antragsdelikte bzw. die Offizialdelikte. Bei den relativen Antragsdelikten ist zwar dem Grunde nach auch ein Strafantrag erforderlich.

Wenn dieser zurückgenommen wird, kann die Staatsanwaltschaft die Straftat allerdings trotzdem verfolgen, wenn ein öffentliches Interesse bejaht wird. Bei den übrigen Delikten, den Offizialdelikten (dies sind schwerere Tatvorwürfe) ist indes eine Rücknahme überhaupt nicht möglich. Einer der häufigsten Fälle, bei welchem der Irrglaube besteht, durch die Rücknahme der Anzeige könne der Vorgang erledigt werden, ist die Vergewaltigung/sexuelle Nötigung. Erlangen die Ermittlungsbehörden von diesem Tatvorwurf einmal Kenntnis, müssen die Ermittlungen fortgeführt werden, auch wenn die Anzeigeerstatterin kein Interesse mehr an der Strafverfolgung hat.

Zu unterscheiden ist hiervon allerdings die Frage, ob – je nach Fallkonstellation – sich die Anzeigeerstatterin auf ein Zeugnisverweigerungsrecht (etwa als Ehefrau oder Verlobte) berufen kann und daher die Angaben möglicherweise nicht mehr verwertet werden dürfen. In diesen Fällen ist es denkbar, dass es dann zu einer Verfahrenseinstellung bzw. zu einem Freispruch kommt. Dies hat dann aber nichts mit einer „Rücknahme der Anzeige“ zu tun, sondern vielmehr mit der Zeugnisverweigerung für zukünftige Aussagen und einem möglicherweise hierdurch entstehenden Verbot in Bezug auf die Verwertung der bereits getätigten Aussagen vor der Polizei.

8. Bei Aussage gegen Aussage wird das Verfahren eingestellt

Eine weitere Fehlvorstellung, welche in der strafrechtlichen Praxis häufig anzutreffen ist, besteht darin, dass in Konstellationen „Aussage gegen Aussage“ automatisch eine Verfahrenseinstellung oder ein Freispruch erfolgen müsse. Wie unrichtig diese Vermutung ist wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass es unzählige Verurteilungen im Sexualstrafrecht gibt, bei denen auch „nur“ die Angaben der Anzeigeerstatterin bzw. die Bekundungen des Beschuldigten vorhanden sind. Entscheidend ist nämlich nicht die Anzahl der Aussagen, sondern vielmehr deren Qualität.

Zu den wichtigsten Aufgaben im Rahmen einer effektiven Strafverteidigung gehört es daher, die Angaben des Belastungszeugen (Anzeigeerstatterin bzw. Anzeigeerstatter) umfassend bewerten und analysieren zu können. Stichwortartig sei in diesem Zusammenhang die Inhaltsanalyse, Motivationsanalyse, Konstanzanalyse, die Möglichkeit einer Fremd- oder Eigensuggestion oder das Aufdecken von Übertreibungen und Strukturbrücken benannt. Wird an dieser Stelle nicht sorgfältig gearbeitet, drohen rechtlichen Konsequenzen, welche möglicherweise vermeidbar gewesen wären.

9. Es muss ein ortsansässiger Verteidiger beauftragt werden

Keineswegs. In Deutschland herrscht dem Grunde nach freie Anwaltswahl. Sie haben daher grundsätzlich die Möglichkeit, den Rechtsanwalt Ihres Vertrauens mit der Wahrnehmung der rechtlichen Interessen zu beauftragen. Alle Rechtsanwälte können im Strafrecht vor sämtlichen Gerichten auftreten. Gerade weil Strafverfahren häufig eine existentielle Bedeutung haben können, sollte die Anwaltswahl gut überlegt sein. Entscheidend ist aus Sicht des Autors in erster Linie Fachkompetenz, Engagement und Erfahrung im Umgang mit schweren Strafverfahren.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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