Erwerbsminderungsrente bei psychischer und psychosomatischer Erkrankung

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Der Sachverhalt:

Die 1960 geborene Klägerin beantragte im Juni 2016 bei der Beklagten eine Weitergewährung der Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab und auch der Widerspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen, da nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bei der Klägerin noch ein Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten mit Einschränkungen von mindestens 6 Stunden täglich vorliege. Hiergegen hat die Klägerin Klage vor dem SG Nordhausen erhoben. Sie führt an, dass aufgrund der Gesamtheit der diagnostizierten Erkrankungen die Arbeitsfähigkeit nicht mehr gegeben sei. Das Gericht holte ein orthopädisches Gutachten ein, welches zu dem Schluss kam, dass die Klägerin trotz mehrerer Gesundheitsstörungen (nämlich: chronisches Schmerzsyndrom des gesamten Achsorgans, Belastungsschwäche der Hände bei degenerativen Veränderungen der Fingergelenke, Funktions- und Belastungsschwäche der Schultergelenke) noch in der Lage sei, 8 Stunden täglich leichte Tätigkeiten auszuführen. Ein neuropsychologisches Gutachten von März 2018 stellt klar, die Klägerin leide unter einer rezidivierenden depressiven Störung mit einer ausgeprägten Agoraphobie mit Panikstörung sowie Spannungskopfschmerzen und eine Somatisierungsstörung. Deshalb könne sie lediglich Arbeitstätigkeiten von weniger als 3 Stunden täglich mit den genannten Einschränkungen und unterdurchschnittlichem Arbeits- und Zeitdruck verrichten. 

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht Nordhausen bestätigt in seinem Urteil vom 07.03.2019 (Aktenzeichen: S 20 R 899/17) den Anspruch der Klägerin auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls im Oktober 2017. Die Klägerin leide unter Erkrankungen vor allem auf psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet. Ihr Zustand habe sich seit Oktober 2017 derart verschlechtert, dass sie nunmehr nur noch in der Lage sei, weniger als 3 Stunden mit den von Dr. M. genannten Einschränkungen mit unterdurchschnittlicher nervlicher Belastung und unterdurchschnittlichem Arbeits- und Zeitdruck auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig erwerbstätig zu sein. Von einer erheblichen Beeinträchtigung auf kognitiv-psychisch-emotionalem Gebiet sei auszugehen, da die strukturellen Defizite der Persönlichkeit, Grübelzwänge und Zwangsymptomatik das Denken und Handeln der Klägerin und ihren Alltag bestimmen.

Die Kammer ist der Überzeugung, dass die vom Gutachter genannten qualitativen Einschränkungen mit dem Arbeitsmarkt, z. B. der von der Beklagten in die Diskussion eingeführten Tätigkeit „leichtere Verpackungstätigkeiten“ nicht vereinbar sind. Solche seien zwar auch gerade aufgrund des Strukturwandels der Arbeitswelt in größerer Zahl vor allen in Logistikzentren vorhanden, aber keinesfalls leidensgerecht. Bei einer Summierung von Leistungseinschränkungen auf körperlichem Gebiet sei zudem ein Mindestmaß an sozialkommunikativen Fähigkeiten zu fordern, die mit den in der oben zitierten Entscheidung genannten leichteren Dienstleistungstätigkeiten noch vereinbar seien. 

Die sozialkommunikativen Fähigkeiten der Klägerin, wie z. B. Konflikt- und Teamfähigkeit, Selbstbehauptungsfähigkeit sowie die Fähigkeit Aufgaben zu planen und zu strukturieren, seien aufgrund ihrer psychiatrisch-psychosomatischen Erkrankung nicht mehr in ausreichendem Maß vorhanden. 

Fazit:

In der Entscheidung des Sozialgerichts wird deutlich, dass in der heutigen Arbeitswelt nicht nur die rein körperlichen Tätigkeiten maßgeblich sind. Auch die Fähigkeiten im sozialkommunikativen Bereich, insbesondere Konflikt- und Teamfähigkeit, sind zu berücksichtigen.

Auswirkungen auf die Praxis:

Die Kammer setzt sich unter Verweis auf ein Urteil des LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 12. Juli 2018, Az. L 8 R 883/14) kritisch mit der Frage auseinander, was denn unter den „üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“ zu verstehen ist. Aus dem Umstand, dass bestimmte leichtere manuelle Tätigkeiten in Arbeitsprozessen enthalten seien, könne nicht auf das Vorhandensein von konkreten Arbeitsplätzen in ausreichender Zahl geschlossen werden, die ausschließlich diese leichten manuellen Tätigkeiten beinhalten.

Zwar ist es ständige Rechtsprechung des BSG, dass bei Versicherten, die trotz qualitativer Leistungseinschränkungen noch zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten können, die Einsatzfähigkeit des Versicherten in einem Betrieb nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen ist und daher nur festzustellen sei, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten Verrichtungen oder Tätigkeiten (wie z. B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw.) erlaubt, die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden. In diesem Fall genüge die Benennung von „Arbeitsfeldern“, von „Tätigkeiten der Art“ nach oder von „geeigneten Tätigkeitsfeldern“, die der Versicherte ausfüllen könnte.

Jedoch habe sich der Arbeitsmarkt erheblich verändert. Tätigkeiten, die mit diesen Verrichtungen verbunden seien und gleichzeitig der Definition einer leichten Tätigkeit entsprechen, gebe es am Arbeitsmarkt kaum noch.

Darüber hinaus setzt sich die Kammer mit den Problemen der durchgeführten Beschwerdevalidierungstests (BDI II und SFSS) auseinander. Hier wird ausdrücklich auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen. Ein auffälliges Testergebnis habe nicht zur Folge, dass der Nachweis einer Erwerbsminderung ausgeschlossen ist. Entscheidend seien der Grad und die Art der Lebensüberzeichnung bei dem konkreten Kläger in der konkreten Situation. Begriffe wie „Simulation und Aggravation“ seien nicht mehr zeitgemäß.

Bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag – für den wir keine Haftung übernehmen – eine Beratung im Einzelfall nicht ersetzen kann.

Alexander Seltmann

Rechtsanwalt und

Fachanwalt für Sozialrecht

Gaßmann & Seidel Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Stuttgart


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