EGMR, Yalcinkaya gegen die Türkei, 26.09.2023, Az.: 267, 2023. Ein richtungsweisendes Urteil für Sky-Ecc, Encro, Anom.

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Kommentar zur wegweisenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 26. September 2023 in der Sache Yuksel Yalcinkaya gegen die Türkei ECHR, Az.: 267, 2023 (15669/20), welche nach Auffassung des Autors auch Auswirkungen auf Kryptoverfahren der Anbieter EncroChat, Sky ECC und Anom haben wird.

Von Rechtsanwalt Andreas Milch

In Kryptoverfahren (EncroChat, Sky Ecc, Anom) stößt die Verteidigung der Angeklagten immer auf das selbe Problem. Es werden zur Beweisführung nur in Exceltabellen übertragene Chatinhalte vorgelegt, die überwiegend nur eine einseitiges Gespräch darlegen und mangels Vollständigkeit ausgewählt erscheinen. Weshalb Strafverteidiger bundesweit die Original-Daten nebst Meta-Daten und Standortdaten fordern, um die Authenzität und Integrität des Beweismittels zu prüfen und so ein faires Verfahren herzustellen. 

Leider werden entsprechende Anträge von deutschen Gerichten bisher immer abgelehnt.

Nach hiesiger Auffassung zwingt jedoch die Amtsaufklärungspflicht die Gerichte geradezu dazu, sämtliche Daten beizuschaffen und die Datengewinnungs- und Verarbeitungsprozesse bei Europol aufzuklären, gerade da Europol eine EU-Einrichtung ist. Weshalb den Verteidigern auch Zugang zu den Europäischen Akten und sämtlichen Daten gewährt werden und nicht nur eine, in einer schlichten Exceltabelle aufbereitete Auswahl von Daten zur Verfügung gestellt werden darf.

Die Gerichte winken hier zwar bundesweit noch ab. Hoffnung gibt aber eine erst kürzlich ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26. September 2023 in der Sache Yuksel Yalcinkaya gegen die Türkei ECHR, Az.: 267, 2023 (15669/20).

In dieser Grundsatzentscheidung hat die Große Kammer des EGMR in aller Klarheit deutlich gemacht, dass es den Grundsätzen eines fairen Verfahrens entspricht, dass einem Angeklagten uneingeschränkter Zugang zu den vermeintlich belastenden Beweisen (hier: Rohdaten der Chatdateien sowie Metadaten des Kryptomessengers Bylock) sowie die Möglichkeit eingeräumt werden muss, die Rohdaten einer unabhängigen Prüfung zur Überprüfung ihres Inhalts, der Zuverlässigkeit und ihrer Integrität zu unterziehen. Sollten von diesen Grundsätzen Ausnahmen gemacht werden, sind diese umfangreich zu begründen und müssen im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung anderweitig kompensiert werden.

 Ich zitiere nachfolgend aus dem Urteil:

Abs. 344. d. Urteils:

„Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass elektronische Beweise, die die Nutzung eines verschlüsselten Nachrichtensystems durch eine Person belegen, dass angeblich von einer terroristischen Vereinigung für die Zwecke ihrer internen Kommunikation entwickelt wurde, im Kampf gegen den Terrorismus oder andere Formen der organisierten Kriminalität grundsätzlich sehr wichtig sein können (vgl. für eine ähnliche Feststellung Akgün, a. a. O., § 167).“

Und weiter:

„Während jedoch die Bekämpfung des Terrorismus den Rückgriff auf solche Beweismittel erforderlich machen kann, gilt das Recht auf ein faires Verfahren, aus dem das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Rechtspflege abzuleiten ist, für alle Arten von Straftaten, von den einfachsten bis zu den komplexesten. Das Recht auf eine faire Rechtspflege nimmt in einer demokratischen Gesellschaft einen so hohen Stellenwert ein, dass es nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit geopfert werden darf (siehe Ramanauskas gegen Litauen [GC], Nr. 74420/01, § 53,EGMR 2008), und die erlangten Beweise, ob elektronisch oder nicht, dürfen von den nationalen Gerichten nicht in einer Weise verwendet werden, die die Grundprinzipien eines fairen Verfahrens untergräbt.“


Abs. 345. d. Urteils:

„Dementsprechend und trotz der besonderen Merkmale des fraglichen Strafverfahrens -sowohl im Hinblick auf den Kontext, in dem es durchgeführt wurde, als auch auf die Art und den Umfang der wichtigsten Beweismittel, die ihren Ursprung in einer großen Menge verschlüsselter elektronischer Daten über Tausende anderer Personen hatten -waren die inländischen Gerichte verpflichtet, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die Fairness des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer insgesamt zu gewährleisten. Wie oben dargelegt, haben sie dies nicht getan. Nach Ansicht des Gerichts war das Versäumnis der inländischen Gerichte, in Bezug auf das streitige Schlüsselbeweisstück angemessene Garantien vorzusehen, die es dem Antragsteller ermöglichten, es wirksam anzufechten, sich mit den wesentlichen Fragendes Falles auseinanderzusetzen und ihre Entscheidungen zu begründen, mit dem Wesender Verfahrensrechte des Antragstellers nach Artikel 6 § 1 unvereinbar. Diese Versäumnisse hatten zur Folge, dass das Vertrauen, das die Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft in der Öffentlichkeit erwecken müssen, untergraben und die Fairness des Verfahrens verletzt wurde.“


Abs. 327. d. Urteils:

„Das Gericht bekräftigt in diesem Zusammenhang, dass das Erfordernis der Offenlegung „sämtlicher materieller Beweise“ für oder gegen den Angeklagten gegenüber der Verteidigung, was einen Aspekt des Rechts auf ein kontradiktorisches Verfahren darstellt nicht eng ausgelegt werden kann, in dem Sinne, dass es nicht auf Beweise beschränkt werden kann, die von der Staatsanwaltschaft als relevant erachtet werden. Sie umfasst vielmehr sämtliches Material im Besitz der Behörden, das möglicherweise für die Verteidigung relevant ist, auch wenn es von den Strafverfolgungsbehörden überhaupt nicht oder nicht als relevant erachtet wird.

Dementsprechend bedeutet die Tatsache, dass der Beschwerdeführer Zugang zu allen inder Akte enthaltenen ByLock Berichten hatte, nicht zwangsläufig, dass er kein Recht oder Interesse daran hatte, Zugang zu den Daten zu verlangen, aus denen diese Berichte erstellt wurden.“


Abs. 328 des Urteils

„In diesem Zusammenhang wird betont, dass die fraglichen ByLock-Daten im Fall des Beschwerdeführers von entscheidender Bedeutung waren, da sie das Strafverfahren gegen ihn auslösten. Im Wesentlichen dienten sie nicht nur dazu, individuelle Informationen über die angebliche Nutzung von ByLock durch den Kläger zu sammeln, sondern bildeten auch die Grundlage für die Einstufung als ausschließlich organisatorisches Kommunikationsinstrument und führte somit direkt zur Verurteilung des Beschwerdeführers. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass das ByLock-Material möglicherweise Elemente enthielt, die es dem Beschwerdeführerermöglicht hätten, sich zu entlasten oder die Zulässigkeit, Zuverlässigkeit, Vollständigkeit oder den Beweiswert dieses Materials anzufechten.“

(Zitatende)


Die Rechtsprechung des EGMR vom 26.09.2023 lässt sich auch ohne weiteres auf Kryptoverfahren (EncroChat, Eky ECC, Anom) subsumieren. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Original-Rohdaten der Chats möglicherweise Elemente enthalten, die es dem Angeklagten ermöglichen würden sich zu entlasten oder die Zulässigkeit, Zuverlässigkeit, Vollständigkeit oder den Beweiswert des Materials anzufechten. Die reine Vorlage von Berichten/Auszügen von Chats in Form von Excel-Tabellen reicht hierfür nicht aus. 

Die Exceltabellen stellen auch nicht die Rohdaten dar. Es liegt wohl auf der Hand, dass Mobiltelefone und auch sonst internetfähige Geräte nicht im Excelformat miteinander kommunizieren.

Das Verfahren muss kontradiktorisch sein und stets Waffengleichheit zwischen den Prozessparteien gewährleisten. Die Waffengleichheit ist nicht gewährleistet, wenn der Verteidigung der Zugang zu denjenigen Beweismitteln versagt wird, die für die wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Angeklagten wesentlich sind.

Insofern ist das vorbezeichnete Urteil des EGMR richtungsweisend und zeigt wie Europa mit dieser Frage umgeht, in dem es klar bestimmt, dass ein faires Verfahren immer gewährleistet sein muss. Zukünftig werden auch die deutschen Obergerichte mit dieser europäischen Entscheidung konfrontiert,  Klarheit für die Instanzgerichte schaffen müssen. 


Der Autor ist Fachanwalt für Strafrecht und  Verteidiger in einer Vielzahl von Encro-, Sky-Ecc- und Atom-Verfahren. Auch ist er der Verteidiger des ersten SKY-Ecc-Großverfahrens Deutschlands (2022), welches nun im Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof ist und auch dort eines der ersten sein dürfte.

Rechtsanwalt Milch verfügt über ein ausgeprägtes IT-technisches Verständnis, welches für die Verteidigung in derartigen Kryptoverfahren sehr hilfreich ist.

Foto(s): @pixabay.com = Greg Montani

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