Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen stärken!

  • 2 Minuten Lesezeit

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in diesem Monat Urteile verkündet, die für einigen Wirbel bei Kranken- und Pflegekassen sorgen dürften.

 Einige Entscheidungen (B 3 P 2/19 R, 3/19 R und 1/20 R) betrafen den neu geschaffenen Wohngruppenzuschlag, § 38 a SGB XI. Diese Wohnform ist 2017 neu in das SGB XI (Gesetz der Pflegeversicherung) aufgenommen worden. Das BSG hat ausdrücklich klargestellt, daß ambulante Wohnformen zu fördern sind und der Grundsatz der Selbstbestimmung pflegebedürftiger Menschen im Vordergrund steht. Daher dürfte der Begriff nicht zu eng ausgelegt werden. Nur wenn die Versorgung in der Praxis einer stationären Vollversorgung entspräche oder wenn sie nur Leistungen der häuslichen Pflege beträfe, läge keine Wohngruppe vor:

Es sei gleichgültig, ob nur eine Person (im entschiedenen Fall der Ehepartner) oder mehrere Beauftragte für die WG tätig wären, ob sie gleichberechtigt oder in einem gestuften Verhältnis zu einander stünden, ob es sich um natürliche oder juristische Personen handelte. In den Gesetzgebungsmaterialien sei nur die Rede von "Präsenzkraft".

Es ist auch gleichgültig, wie die Wohngruppe ihre Präsenzkraft beauftragen würde, ob alle jeweils betroffenen Bewohner immer gleichzeitig zustimmen müßten oder ob neu hinzukommende Bewohner die Beschlüsse nachträglich nur genehmigen müßten.

Zentrale Voraussetzung wäre aber, daß Aufgaben konkret festgelegt werden würden und eindeutig zu unterscheiden seien von einem pflegerischen Auftrag. Beiträge der Bewohner selbst bzw. ihrer Angehörigen / Freunde müßten daneben möglich und erforderlich sein. Keinesfalls dürfe die Verantwortung für Pflege und Betreuung vollständig übertragen werden.

 

Alles Fragen, die auf den ersten Blick abstrakt erscheinen. Sie zeigen aber nur, welche Steine Sozialleistungsträger den Betroffenen in den Weg legen und wie wenige Handlungsanweisungen der Gesetzgeber vorgegeben hat. Wieder einmal ist es Sache des höchsten Gerichts in Sozialsachen, Definitionen und Maßstäbe zu setzen!

 

Daß das nicht nur der Fall ist, weil die "Wohngruppe" so neu im Gesetz ist, zeigt der ebenfalls am 10.09.2020 entschiedene Fall zur Hilfsmittelversorgung (B 3 KR 15/19 R): Der Streit um die Abgrenzung Hilfsmittel ./. Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ist vermutlich so alt wie das SGB V (Buch der Krankenversicherung) selbst.

Dieser Fall ist deshalb so besonders interessant, weil er ins "digitale Zeitalter" aufbricht. Hier ging es nicht um das Therapiefahrrad oder den Rehabuggy, sondern um eine GPS – Uhr. Schon in der Vergangenheit mußte das BSG entscheiden, ob ein GPS System für blinde oder erheblich sehbehinderte Menschen erforderlich sein könne.

Im Streitfall ging es nicht nur um die Abgrenzung zum Gebrauchsgegenstand sondern die beklagte Krankenkasse schien auf den ersten Blick um die Grundrechte des Klägers besorgt: Durch die GPS Uhr, die die Ortung und das Auffinden hilfloser Personen erst ermöglichte, könnte der geistig behinderte Kläger überwacht werden. Dem erteilte das BSG eine Absage: Ansonsten sei der Kläger beschränkt auf verschlossene Räume und gesperrte Bereiche, was ihn in seiner Bewegungsfreiheit und Mobilität erheblich einschränke. Er habe einen Anspruch auf Erschließung eines körperlichen Freiraums. Der Überwachungsgedanke trete dagegen zurück.

Wieder einmal mußte das BSG einem Sozialleistungsträger erklären, daß der Behinderungsausgleich nicht auf eine Minimalversorgung beschränkt ist.

 


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

Artikel teilen:


Sie haben Fragen? Jetzt Kontakt aufnehmen!

Weitere Rechtstipps von Rechtsanwältin Marianne Schörnig

Beiträge zum Thema