Verfassungsbeschwerde ohne Erschöpfung des Rechtswegs?

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Ein Fundament der Verfassungsbeschwerde ist deren Subsidiarität. Eine Verfassungsbeschwerde kommt erst dann in Betracht, wenn alle anderen rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und der Bürger keine andere Option mehr hat als Verfassungsbeschwerde einzulegen.

Wichtigstes Kriterium dafür ist die Rechtswegerschöpfung: Man muss zunächst vor die zuständigen Fachgerichte (meist Zivilgerichte oder Verwaltungsgerichte) ziehen und dort alle zulässigen Rechtsmittel (z.B. Berufung, Revision, Beschwerde, ggf. Gehörsrüge) einlegen. Daneben muss man zumindest überlegen, ob nicht weitere Möglichkeiten wie ein erneuter Antrag zur Verfügung stehen.

In § 90 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ist dies folgendermaßen formuliert:

Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden.

Hiervon liefert Satz 2 aber sogleich eine Ausnahme:

Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde.


Allgemeine Bedeutung des Verfahrens

Erste Fallgruppe ist also die „allgemeine Bedeutung“. Damit ist gemeint, dass die zu klärende Rechtsfrage über den konkreten Einzelfall hinaus wichtig ist und aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dann auch andere Fälle leichter entschieden werden können.

Das wäre prinzipiell bei vielen Fragen der Fall. Man könnte also meinen, dass man mit dem Verweis auf die allgemeine Bedeutung zahlreiche Verfahren direkt beim Bundesverfassungsgericht eröffnen könnte.

Tatsächlich muss man aber weitere hohe Voraussetzungen erfüllen:

  • Zunächst muss es um eine spezifisch verfassungsrechtliche Frage gehen, also bspw. um die Auslegung neuer Gesetze anhand der Grundrechte.
  • Dann muss es aber auch so sein, dass eine vorherige fachgerichtliche Klärung nicht notwendig ist. Das wiederum widerspricht oft gleich dem ersten Kriterium, weil gerade bei neuen Gesetzen die Auslegung zunächst Sache der Fachgerichte ist.
  • Außerdem darf es keine Notwendigkeit der Klärung von Tatsachenfragen geben, da das Bundesverfassungsgericht selbst normalerweise keine Beweisaufnahme durchführt.

So wurde bspw. in einem Verfahren über die Zulässigkeit von Corona-Maßnahmen im Juni 2020 (1 BvR 1230/20), dessen allgemeine Bedeutung völlig auf der Hand lag, entschieden, dass zunächst „fachwissenschaftliche – virologische, epidemiologische, medizinische und psychologische – Bewertungen und Risikoeinschätzungen“ einzuholen seien und dies durch die Fachgerichte geschehen müsse. Der Rechtsweg wurde also als nicht verzichtbar angesehen, die Verfassungsbeschwerde war daher unzulässig.


Schwerer und unabwendbarer Nachteil

Zweite Fallgruppe ist das Drohen eines schweren und unabwendbaren Nachteils für den Fall des Beschreitens des Rechtswegs. Auch hier könnte man zunächst meinen, dass das leicht zu begründen wäre – ist denn eine Grundrechtsverletzung nicht meistens ein schwerer Nachteil? Dabei muss man aber beachten, dass sich der Nachteil gerade aus der Verzögerung durch die Beschreitung des Rechtswegs ergeben muss. Es muss also eine Rechtsverletzung geben, die einzig und allein durch das sofortige Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts behoben werden kann.

Dies ist praktisch nie der Fall. In fast jeder Hinsicht gibt es die Möglichkeit eines Eilantrags an das Fachgericht. Dieses kann innerhalb weniger Tage, notfalls sogar innerhalb von Stunden eine Regelung (einstweilige Verfügung, einstweilige Anordnung) erlassen, um die Rechte des Bürgers zu wahren. Dabei muss es auch die Grundrechte beachten, bietet also ein gleiches und meist sogar höheres Schutzniveau als das Bundesverfassungsgericht.

Wird der Eilbeschluss nicht erlassen, kann meist noch Beschwerde eingelegt werden, über die ggf. auch zeitnah entschieden wird. Danach ist der Rechtsweg erschöpft und eine Verfassungsbeschwerde nach den ganz regulären Vorschriften zulässig, ohne dass es einer Ausnahmeregelung bedarf.


Rechtsweg unzumutbar

Die dritte Fallgruppe, die man entweder als ungeschriebene Ausnahme oder als Unterfall des schweren Nachteils ansieht, liegt vor, wenn die Beschreitung des Rechtswegs absolut unzumutbar ist. Das ist dann gegeben, wenn von vornherein klar ist, dass das Fachgericht keine Hilfe ist und gegen den Bürger entscheiden wird.

Dies ist allenfalls unter ganz speziellen Umständen denkbar, wenn ein Gericht bspw. mehrfach bewusst gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entschieden hat. Auch bei landesrechtlichen Fragen, über die es eine ganz gefestigte Rechtsprechung der Fachgerichte gibt, kann es ausnahmsweise unnötig sein, nur der Rechtswegerschöpfung willen ein weiteres Urteil zu erstreiten, dessen Inhalt schon völlig klar ist (1 BvR 2322/14).


Kein eigenes Verschulden

Wie so oft im Recht der Verfassungsbeschwerden fällt dem Beschwerdeführer jedes vorhergehende eigene Verschulden „auf die Füße“:

  • Ergibt sich bspw. der schwere Nachteil für den Verfassungsbeschwerdeführer daraus, dass dieser voreilig auf eine bestimmte behördliche oder gerichtliche Entscheidung vertraut hat, kann er deswegen keine sofortige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verlangen. (1 BvR 2062/13)
  • Wer eine Rechtsmittelfrist versäumt, kann nicht geltend machen, dass diese allgemein bedeutsame Rechtsfrage jetzt nur noch direkt durch das Bundesverfassungsgericht geklärt werden kann. (Barczak, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, § 90, Rdnr. 399)
  • Ist für die Beschreitung des Rechtswegs die Vertretung durch einen Rechtsanwalt sinnvoll oder notwendig, kann man sich nicht darauf berufen, keinen gefunden zu haben, sondern muss alle möglichen Schritte unternehmen, insb. die Bestellung eines Notanwalts beantragen.


Voraussetzungen meist nicht erfüllt

Wie man sieht, ist eine Verfassungsbeschwerde ohne vorherige Beschreitung des Rechtswegs nur ganz selten möglich. In den letzten Jahren ist auch die Tendenz des Bundesverfassungsgerichts abzuleiten, die Subsidiarität sehr ernst zu nehmen und seine Position als „allerletzte Instanz“ zu festigen.

Zudem hat das Bundesverfassungsgericht keinerlei Interesse daran, selbst zu einer Tatsacheninstanz zu werden, die sich mit der Ermittlung des Sachverhalts auseinandersetzen muss, statt diesen einfach aus den Verfahrensakten der Vorinstanzen entnehmen zu können.

Der Rechtsweg muss also immer akribisch beschritten werden. Man kann in Spezialfällen allenfalls daran denken, parallel dazu eine eigentlich noch nicht zulässige Verfassungsbeschwerde einzulegen und zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht ausnahmsweise bereits entscheiden möchte.


Rechtsanwalt Thomas Hummel berät Sie bei Ihrer Verfassungsbeschwerde

Insoweit muss man jedoch auch die Kostenseite berücksichtigen: Die Anwaltsgebühren für eine Verfassungsbeschwerde liegen bei mehreren tausend Euro. Wenn noch nicht absehbar ist, ob es eine Verfassungsbeschwerde überhaupt braucht, ist es nicht unbedingt sinnvoll, dieses Geld voreilig in die Hand zu nehmen.

Rechtsanwalt Thomas Hummel ist auf Verfassungsbeschwerden spezialisiert und kann die Aussichten in Ihrem Fall prüfen. Sollten noch weitere Schritte notwendig sein, wird er Sie an einen Fachanwalt verweisen.


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