Die Rücknahmefiktion des § 102 SGG und die Wiederaufnahme sozialgerichtlicher Verfahren

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Die Sozialverwaltung und die Sozialgerichtsbarkeit unterliegt in großen Teilen dem sog. Amtsermittlungsgrundsatz, § 20 SGB X,  § 103 SGG. Das heißt, die betroffenen Bürger müssen nicht alle rechtlichen und tatsächlichen Argumente von selbst beibringen, sondern sowohl die Sozialversicherungsträger als auch die Gerichte sind dazu verpflichtet, von Amts wegen die rechtserheblichen Umstände zu ermitteln. Die Sozialgerichtsbarkeit ist daher im Wesentlichen sehr bürgerfreundlich. 

Allerdings gibt es auch gesetzliche Grenzen. So sollen Widerspruch und Klage zum Beispiel begründet werden, damit die Behörden konkret prüfen können, was an dem Verwaltungshandeln falsch sein soll. Oder der Kläger muss mitwirken, wenn Gutachten eingeholt werden sollen oder Unterlagen fehlen, die nur ihm vorliegen etc. Wer das nicht tut oder ein Verfahren nicht ernsthaft betreibt, bekommt jedenfalls vom Sozialgericht irgendwann eine sog. Betreibensaufforderung (Bild unten), in welcher man belehrt wird, dass wenn man das Verfahren nicht durch Schriftsätze oder Beweise oder sonstige Mitwirkung innerhalb der nächsten drei Monate fördert, die Klage als zurückgenommen gilt, Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG. 

Verstreicht diese Frist ungenutzt, wird das gerichtliche Verfahren also automatisch beendet und die Gerichtsakte weggelegt. Der Kläger kann dann - wenn die Beendigung des Verfahrens berechtigt erfolgte - nur noch versuchen, seine Rechte über § 44 SGB X (Überprüfungsantrag) geltend zu machen, wenn denn die Voraussetzungen vorliegen. 

Aber ist es wirklich so einfach? Was, wenn das Verfahren unrechtmäßig beendet wurde? Gemäß der einschlägigen Kommentierung kann nämlich die Rücknahmefiktion aus § 102 Abs. 2 SGG nur auf erhebliche unterlassene Mitwirkungshandlungen gestützt werden und kommt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, in denen sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers vorliegen. Hierbei hängt es jeweils vom Einzelfall ab, ob ein Wegfall des Rechtsschutzinteresses angenommen werden kann oder nicht. 

Eine Klagebegründung z.B. stellt nur dann eine solche Mitwirkungshandlung dar, wenn sie gesetzlich geboten ist, vergleiche BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000, 8 B 119/00. Tatsächlich handelt es sich allerdings bei § 92 Abs. 1 SGG (Klagebegründung) aber um eine sog. Sollvorschrift. Eine Klage muss also nicht zwingend begründet werden. 

Jedenfalls soll nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift durch die Rücknahmefiktion aus § 102 Abs. 2 SGG das Gericht insofern entlastet werden, als dass es nicht wegen fehlender Widerspruchsbegründung oder Klagebegründung ins Blaue hinein von Amts wegen das Klägerbegehren ermitteln muss. Ergibt sich aber z.B. bereits aus dem Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren das Begehren des Klägers und erst recht aus einem Prozesskostenhilfeantrag nebst Begründung, kann das Gericht sich nicht die Rücknahmefiktion zu eigen machen, denn das Klägerbegehren ist bereits hervorgetreten.

Zudem kommt es auch konkret darauf an, welche Mitwirkungshandlung das Gericht überhaupt verlangt hat. Hat das Gericht z.B. lediglich eine Stellungnahme angefordert, was jedoch nach Urteil des Hessisches Landessozialgerichts vom 28. April 2015 – L 3 U 205/14,  per se schon nicht reicht, um eine Rücknahmefiktion auszulösen, kann dies auch nicht in einer fingierten Klagerücknahme enden. Zudem muss die Rechtsfolge der unterlassenen Mitwirkung klar und deutlich angedroht werden. Entsprechend weisen viele Betreibensaufforderungen also bereits inhaltliche Mängel auf und sind gut angreifbar. 

Sofern zu Unrecht durch das Gericht die Rücknahme der Klage fingiert wurde, ist dies gegenüber dem Sozialgericht deutlich zu machen und die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen mit entsprechender Begründung. Das Gericht teilt bei Erfolg ein neues Aktenzeichen zu (meist mit einem WA am Ende für Wiederaufnahme) und das Verfahren wird fortgeführt als wäre fast nichts gewesen. 

Nicole Rinau

Rechtsanwältin

Fachanwältin für Sozialrecht

Fachanwältin für Familienrecht

Foto(s): @buemlein


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