Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zugunsten des Verurteilten (§ 359 StPO)

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Ein rechtskräftig abgeschlossenes Strafverfahren kann erneut begonnen werden, wenn sich nachträglich ein schwerwiegender Fehler am Urteil herausstellt.

Die Prozedur für einen solchen Neubeginn des Verfahrens nennt sich Wiederaufnahme und stellt einen außerordentlichen Rechtsbehelf dar.

Die Wiederaufnahme kann zugunsten und zuungunsten erfolgen.

Dieser Artikel legt die Grundzüge dar, wenn man als zu Unrecht verurteilte Person oder als deren Angehörige (auch einer bereits verstorbenen Person) eine Wiederaufnahme eines Strafverfahrens beantragen möchte.

Das komplizierte Prozedere, mit dem das Wiederaufnahmeverfahren abläuft, werde ich in einem separaten Artikel erklären.


Die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme richten sich nach § 359 StPO.

Demnach ist die Wiederaufnahme nur zulässig, wenn

1. eine gefälschte Urkunde als Beweis vorgelegt wurde,

2. ein Zeuge oder Sachverständiger eine strafbare Falschaussage begangen hat,

3. ein Richter oder Schöffe eine strafbare Verletzung seiner Amtspflichten begangen hat,

4. das Strafurteil auf ein Zivilurteil gestützt wurde, das seinerseits aufgehoben wurde,

5. es neue Tatsachen gibt, die einen Freispruch oder eine erheblich geringere Strafe erwarten lassen,

6. der EGMR das Urteil als menschenrechtswidrig angesehen hat.


Nr. 1 bis 3 bezieht sich auf die Fälle, in denen das konkrete Urteil nur möglich war, weil im Prozess eine Straftat zu Lasten der verurteilten Person begangen wurde.

Hier gibt es aber noch eine wichtige Besonderheit:

Wegen dieser Straftat muss eine Verurteilung des Täters erfolgt sein (§ 364 StPO).

Nur, wenn die Urkundenfälschung, die Falschaussage oder die Rechtsbeugung durch Urteil festgestellt wurde, kann die Wiederaufnahme darauf gestützt werden. Das macht es für den Betroffenen noch einmal besonders schwierig, da er selbst meist nicht durchsetzen kann, dass die Staatsanwaltschaft hier überhaupt Ermittlungen durchführt, von einer Verurteilung ganz zu schweigen. Es gibt hier auch kein „in dubio pro reo“ für die Wiederaufnahme, die behauptete Straftat muss also lückenlos bewiesen sein.


Wiederaufnahmegrund Nr. 4 kommt in der Praxis kaum vor, schon allein deswegen, weil sich Strafurteile nur in den seltensten Fällen unmittelbar auf Zivilurteile stützen.


Nr. 6 (EGMR-Urteil) eröffnet die Möglichkeit, nach einer erfolgreichen Menschenrechtsbeschwerde, die das Urteil nicht aufhebt, sondern lediglich dessen Rechtswidrigkeit feststellt, ein neues Verfahren zu bekommen. Auch dieser Wiederaufnahmegrund ist selten, da Menschenrechtsbeschwerden nur sehr selten erfolgreich sind. Zu beachten ist dabei, dass einfache Rechtsfehler, die nicht zu einer Aufhebung durch den EGMR führen, keine Wiederaufnahmegründe sind.


Die größte Bedeutung hat aber die Nr. 5, die ich darum noch einmal gesondert mit dem kompletten Gesetzeswortlaut wiedergebe:

- wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind,

- die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen

- die Freisprechung des Angeklagten oder

- in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder

- eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung

- zu begründen geeignet sind


neue Tatsachen/Beweismittel

Vorgelegt werden können sowohl Tatsachen, also die Behauptung eines bestimmten Geschehens, als auch Beweismittel, also Belege dafür, dass diese Tatsachen richtig sind.

Entscheidend ist das Kriterium der „Neuheit“. Neu ist grundsätzlich, was dem Gericht erst nach Abschluss des Verfahrens bekannt wurde und daher nicht berücksichtigt werden konnte. Ob man als Angeklagter selbst davon wusste, ist nicht entscheidend.

Nicht neu sind aber in aller Regel Beweismittel, die zwar bekannt waren, aber vom Gericht für unerheblich gehalten wurden oder denen nicht geglaubt wurde.

Neue Untersuchungsmethoden (z.B. vergangener Durchbruch: DNA-Analyse, neu: IT-Forensik) können hier auch eine wichtige Rolle spielen.


Alleinige Bedeutung oder in Verbindung mit früheren Beweisen

Die Bedeutung der neuen Tatsachen oder Beweise kann sich aus diesen selbst heraus ergeben oder erst durch Zusammenschau mit bereits bekannten Tatsachen. Die bereits festgestellten Tatsachen bleiben also grundsätzlich bestehen und können weiter herangezogen werden.

Beispiel: Zeuge A hatte dem Angeklagten ein Alibi gegeben, das Gericht hatte ihm aber nicht geglaubt. Nun taucht Zeugin B auf und bestätigt das Alibi.


Freispruch

Ziel der Wiederaufnahme kann natürlich der Freispruch sein. Stellt sich heraus, dass der Angeklagte die Tat nicht begangen hat, so kann die Verurteilung nicht bestehen bleiben.

Der Grund des Freispruchs ist dabei unerheblich. Sehr häufig werden es tatsächliche Zweifel an der Täterschaft sein, dass der Verurteilte also die Handlungen nicht begangen hat, die ihm das Urteil vorwirft. Aber auch der Nachweis von Rechtfertigungsgründen (z.B. Notwehr) oder Schuldaufhebungsgründen (z.B. Unzurechnungsfähigkeit) kommt in Betracht.

Dem Freispruch gleich steht eine zwingende endgültige Verfahrenseinstellung, z.B. weil sich durch die neuen Beweise herausstellt, dass die Straftat schon verjährt war.


Geringere Strafe aufgrund eines milderen Gesetzes

Auch eine geringere Strafe kann angestrebt werden, allerdings mit einer erheblichen Einschränkung: Diese muss sich aus einer milderen Gesetzesbestimmung ergeben.

Ein milderes (anderes) Gesetz ist jedes Gesetz, dessen Strafandrohung geringer ist oder das mindernde Umstände vorsieht, die zu einer geringeren Bestrafung führen.

Beispiel 1: Der Täter wurde wegen Raubes zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nachträglich stellt sich heraus, dass er dies nur getan hat, um die Spielschulden seiner Ehefrau zurückzuzahlen. Hätte das Gericht das gewusst, hätte es höchstens zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe verhängt. Das ist aber kein milderes Gesetz, sondern nur eine Frage der Strafzumessung. Dies ist keine Begründung für eine Wiederaufnahme.

Beispiel 2: Der Täter wurde wegen Mordes aus Habgier verurteilt. Nun stellt sich nachträglich heraus, dass er einzig aus Eifersucht gehandelt hat und ein vom Gericht noch unterstellter finanzieller Nutzen gar nicht möglich gewesen wäre; damit wäre die Tat nur als Totschlag strafbar und die Straferwartung deutlich geringer.

Der Totschlag ist im Vergleich zum Mord ein milderes Gesetz, sodass die Wiederaufnahme möglich ist.

Ein anderes Gesetz liegt auch noch bei Tateinheit statt Tatmehrheit vor, wenn Beihilfe statt Täterschaft oder Anstiftung vorliegt oder Versuch statt Vollendung einschlägig ist oder wenn Jugendstrafrecht statt allgemeinem Strafrecht zur Anwendung kommt.

Auch ein benannter Strafmilderungsgrund ist ein zulässiges Wiederaufnahmekriterium (Ausnahme § 363 Abs. 2 StPO).


Minder schwerer Fall, besonders schwerer Fall, Regelbeispiele

Die Annahme eines minder schweren Falles oder der Wegfall eines besonders schweren Falles stellt dagegen keinen zulässigen Wiederaufnahmegrund dar (vgl. § 363 Abs. 1 StPO).

Ebenso verhält es sich bei den Strafschärfungsgründen mit Regelbeispielen.

Obwohl meistens eine deutliche Strafrahmenverschiebung stattfindet, handelt sich dabei nicht um ein anderes Gesetz.


Änderung der Maßregelentscheidung

Schließlich kann eine andere Entscheidung über eine Maßregel der Sicherung und Besserung (z.B. Sicherungsverwahrung, Unterbringung in der Psychiatrie/Entziehungsklinik) erreicht werden. Dafür ist nicht notwendig, dass ein anderes Gesetz angewendet werden muss, auch eine neue Abwägung aufgrund neuer Tatsachen ist ausreichend.


Eignung

Ein Vorteil der Wiederaufnahme ist, dass ein unmittelbares Beruhen des Urteils auf der damaligen Unkenntnis der neuen Tat nicht nachgewiesen werden muss. Es reicht schon, dass diese Tatsachen geeignet sind, das Urteil in Frage zu stellen.

Im Antrag muss diese Eignung aber dargelegt werden. In der Praxis empfiehlt es sich, so gut wie möglich zu begründen, warum das Urteil anders ausgefallen wäre. Dies verlangt eine intensive Erfahrung mit Wiederaufnahmeanträgen.

Im Kern wird es darum gehen, das Gericht mit derart handfesten Tatsachen zu konfrontieren, dass sich eine Wiederaufnahme geradezu aufdrängen muss. Es kann dann trotzdem passieren, dass die tatsächliche Wiederaufnahme dann immer noch erst über die Beschwerdeinstanz gelingt.

Hier ist eine transparente Einschätzung und Abwägung erforderlich.


Anwaltliche Unterstützung

Anhand dieser Ausführungen können Sie nun vielleicht einigermaßen abschätzen, ob eine Wiederaufnahme in Ihrem Verfahren überhaupt in Frage kommt. Die genaue Überprüfung im Einzelfall sollte ein spezialisierter Rechtsanwalt vornehmen.

Gerade bei der Wiederaufnahme ist es sehr wichtig, auch andere ordentliche und außerordentliche Rechtsbehelfe zu prüfen und genau abzuwägen, ob die Wiederaufnahme überhaupt das Richtige ist oder nicht doch beispielsweise ein Gnadengesuch angestrebt werden soll.

Rechtsanwalt David-Joshua Grziwa verfügt über Erfahrung mit Wiederaufnahmeanträgen und kann ihr Anliegen nach Sichtung der Akten kompetent und ehrlich einschätzen. Sollten sich dann Erfolgschancen ergeben, führt er das gesamte Verfahren für Sie durch.

Die Kosten sind dabei stark vom Umfang des ursprünglichen Strafverfahrens abhängig. In aller Regel müssen Sie aber mit Anwaltsgebühren in der Gegend von 3.000 bis 8.000 Euro rechnen. Hierüber wird mit Ihnen eine transparente Honorarvereinbarung geschlossen, bevor das Mandat beginnt.

Es ist auch möglich, das Verfahren von zwei Anwälten durchführen zu lassen Rechtsanwalt Grziwa arbeitet eng mit dem erfahrenen Verfassungsrechtler Rechtsanwalt Thomas Hummel zusammen. Rechtsanwalt Hummel ist durch seine Rechtsgebiete darauf spezialisiert, dann zu prüfen und einzuschreiten, wenn der reguläre Rechtsmittelweg bereits erschöpft ist.


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