Corona-Verordnung NRW: Ist die Geschäftsschließung verfassungswidrig?

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Corona-Verordnung NRW: Ist die Geschäftsschließung verfassungswidrig?

Die seit 23. März 2020 in Nordrhein -Westfalen geltende Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2, kurz: Corona-Schutzverordnung (CoronaSchVO), bringt Einschränkungen der Freiheitsrechte nicht nur für Privatpersonen, sondern auch für Unternehmer mit sich, und zwar zumeist für klein- und mittelständische Unternehmen (KMU): den Mittelstand.

Doch sind diese Einschränkungen, die einem (zumindest temporären) Berufsverbot gleichkommen, rechtmäßig oder rechtswidrig, insbesondere auch verfassungsgemäß?

Nach hiesiger Auffassung sind die Regelungen bereits jetzt hochkritisch.

Spätestens im Falle der Verlängerung (die Verordnung gilt bis einschließlich 19. April 2020) oder gar Verschärfung käme ein unzulässiger Grundrechtseingriff in die Unternehmerfreiheit gemäß Artikeln 12, 14 Grundgesetz (GG) ernsthaft in Betracht (wobei jede Verordnungsregel und Einzelfall-Anordnung genau zu prüfen wären).

Würde ein Grundrechtsverstoß von den Fachgerichten, vom Verwaltungsgericht (VG), Oberverwaltungsgericht (OVG), Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) oder vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt, wären diese Verordnungs-Regelungen nichtig (womöglich dann auch die Regelungen anderer Bundesländer wie zB Bayern und Sachsen mit Ausgangssperre statt Kontaktverbot).

Doch wie realistisch ist gerichtliche Aufhebung der Geschäftsschließungen, die voraussichtlich in Bälde – trotz umfangreicher finanzieller Hilfszusagen von Bund und Land (wie Soforthilfe, Bürgschaft und KfW-Darlehen) – eine existenzielle Bedrohung nicht nur für einzelne Unternehmen, sondern für den gesamten Mittelstand und damit das gesamte deutsche Wirtschaftssystem darstellen werden?

Da eine Nachfolgeregelung zur Corona-Verordnung zurzeit noch nicht bekannt ist, sollen die derzeitigen Regelungen für die mittelständische Wirtschaft, vor allem für Handel, Handwerk, Dienstleistungen, Gastronomie, Tourismus und Gesundheitswesen betrachtet und hiernach eine Prognose „gewagt“ werden.

Für KMU gilt Folgendes:

Handel, Banken und allgemeiner Lebensbedarf

Zulässig sind gemäß § 5 Abs. 1 CoronaSchVO der Lebensmittel-Einzelhandel, Hofläden, Kurierdienste sowie Getränkemärkte, Tierbedarfs-Märkte, Banken und Sparkassen, Tankstellen, Poststellen, Reinigungen und Waschsalons und Kioske.

Der Großhandel muss beachten, dass die Anzahl gleichzeitig anwesender Kunden eine Person pro 10 Quadratmeter zugängliche Lokalfläche nicht übersteigen darf, § 5 Abs. 1 Nr. 7 CoronaSchVO.

Der Betrieb von Baumärkten und Gartenbaumärkten sowie von Wochenmärkten bleibt zulässig, jedoch nur mit den sich aus § 5 Abs. 2 und 3 CoronaSchVO ergebenden Einschränkungen.

Der Betrieb nicht in § 5 Abs. 1 bis 3 CoronaSchVO genannter Verkaufsstellen ist untersagt. Zulässig bleiben insoweit der Versandhandel und die Auslieferung bestellter Waren.

Handwerk

Handwerker können ihre Arbeit mit Vorkehrungen zum Schutz vor Infektionen weiterhin ausüben, § 7 Abs. 1 S. 1 CoronaSchVO. Jedoch ist der Verkauf von nicht mit handwerklichen Leistungen verbundenen Waren Handwerkern mit Geschäftslokal verboten, ausgenommen ist notwendiges Zubehör.

Dienstleistungen und freie Berufe

Für Dienstleister gilt das zu Handwerkern Gesagte entsprechend, § 7 Abs. 1 CoronaSchVO. Dies betrifft die freien Berufe (zB Steuerberater, Architekt) und die Erbringer sonstiger Dienstleistungen.

Friseure, Nagelstudios, Tätowierer, Massagesalons

Verboten ist die Ausübung der Tätigkeit als Friseur, Nagelstudio, Tätowierer, Massagesalon, § 7 Abs. 3 S. 1 CoronaSchVO.

Gastronomie und Vergnügungsstätten

Der Betrieb eines Restaurants, einer Gaststätte, Kneipe, eines Imbiss, einer Mensa bzw. Kantine (ausgenommen sind Betriebskantinen) und anderen gastronomischen Einrichtungen ist verboten, § 9 Abs. 1 CoronaSchVO.

Die Belieferung mit Speisen und Getränken sowie der Außer-Haus-Verkauf bleiben erlaubt, wenn die Mindestabstände von 1,5m eingehalten werden. Untersagt ist aber der Verzehr im Umkreis von 50m um die Gastronomie, § 9 Abs. 2 CoronaSchVO.

Untersagt ist der Betrieb einer Bar, eines Clubs, einer Diskothek, Spielhalle, Spielbank, eines Bordell sowie die Prostitution, § 3 Abs.1 Nr. 1, 6 und 7 CoronaSchVO.

Übernachtung und Tourismus

Übernachtungsangebote zu touristischen Zwecken, somit nicht nur gewerbliche (Hotel), sondern auch private Angebote (Pensionen, Online-vermittelte Mietangebote), sind verboten, zudem Reisebusreisen, § 8 CoronaSchVO.

Arztpraxen und Zahnarztpraxen

Die Corona-Verordnung regelt hierzu nichts. Mangels Verbotsregelung und nach dem Verordnungszweck, Aufrechterhaltung des Gesundheitssystem können niedergelassene Ärzte und Zahnärzte weiter praktizieren.

Heilpraktiker

Umstritten ist hingegen die Situation der Heilpraktiker. Auch hierzu ist nichts geregelt. Die Handhabung der Gesundheitsämter ist unterschiedlich (Quelle: https://freieheilpraktiker.com/fortbildung/fortbildung-aktuell/352-corona-praxisausfall-praxisschliessung-und-quarantaene).

Apotheken, Sanitätshäuser und Drogerien

Apotheken, Sanitätshäuser und Drogerien können gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO geöffnet bleiben bei Einhaltung der erforderlichen Schutzvorkehrungen, zB Steuerung des Zutritts.

Physio- und Ergotherapeuten

Therapeutische Berufsausübungen, insbesondere Physio- und Ergotherapeuten, sind erlaubt, soweit medizinische Notwendigkeit durch ärztliches Attest nachgewiesen wird und strenge Schutzmaßnahmen vor Infektionen getroffen werden, § 7 Abs. 3 S. 2 CoronaSchVO.

Sind diese Beschränkungen der Berufsfreiheit und Unternehmerfreiheit verfassungsgemäß?

Angesichts der einschneidenden Eingriffe, die - je nach Branche - teilweise oder vollständigen Umsatzausfall oder Verdienstausfall bedeuten, wird sich bald die Frage der Verfassungswidrigkeit aufdrängen.

Nach hiesiger Auffassung kommt Verfassungswidrigkeit unter drei Gesichtspunkten in Betracht:

  • fehlende Ermächtigungsgrundlage (Gesetzesvorbehalt)
  • Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz
  • Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Fehlende Ermächtigungsgrundlage (Gesetzesvorbehalt)

Rechtsgrundlage der Verordnung sollen nach der Präambel §§ 32, 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IFSG) sein.

Die betreffenden Regelungen des IFSG sind jedoch weit und vage gefasst, sodass höchst fraglich ist, ob der Gesetzgeber „alles Wesentliche selbst“ regelt (Wesentlichkeitstheorie des BVerfG).

Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz

Das Bestimmtheitsgebot ergibt sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip des Artikels 20 GG.

Die Verordnungsregeln sind vielfach unpräzise bzw. beinhalten Generalklauseln, welche weite Interpretation zulassen.

Wenngleich sich dies daraus erklären mag, dass die Formulierungen mit der „heißen Nadel gestrickt“ wurden, was die Gerichte angesichts jetziger Ausnahmesituation noch „durchwinken“ mögen, wird dies für eine Nachfolgeregelung ab dem 20. April 2020 nach hiesiger Auffassung verfassungsrechtlich prekär.

Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Selbst wenn man zu beiden vorgenannten Prüfungspunkte die Verfassungsmäßigkeit bejahte, verbliebe der „Knackpunkt“ Verhältnismäßigkeit.

Das Verhältnismäßigkeitsgebot, das auch dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip entspringt, erfordert, dass die Maßnahme geeignet, erforderlich, angemessen und (im engeren Sinne) verhältnismäßig ist.

Bereits die beiden ersten, weniger „wertenden“, objektivierbaren Stufen der Geeignetheit und Erforderlichkeit sind nicht ohne Weiteres (dauerhaft) zu bejahen. Dies wird im weiteren Verlauf der Corona-Krise davon abhängen, ob einerseits die Maßnahmen Wirkung zeigen, und ob andererseits diese wirtschaftlich und damit sozial zumutbar bleiben.

Derzeit befürworten zwar das Robert-Koch-Institut (RKI) und die Mehrheit der Virologen/Epidemiologen die Maßnahmen – jedenfalls die für die Gesamtbevölkerung: Kontaktverbote und Betretungsverbote, welche die Kommunen örtlich verfügen können (§ 12 Abs. 1 S. 3 CoronaSchVO), und nur wenige Fachleute (zB die Virologin Prof. Dr. Karin Mölling und einige Fachärzte, so der inzwischen „Internet-prominente“ Lungenfacharzt Dr. Wolfgang Wodarg) die Geeignetheit und Erforderlichkeit bezweifeln.

Wenn man diese bejaht, wären nächste „Hürden“, dass die Maßnahmen, die gesetzlichen Regelungen und hierauf ergangene Verwaltungsakte, insbesondere Zwangsmaßnahmen, Bußgelder und Strafen, angemessen und verhältnismäßig (im engeren Sinne) sein müssten, also die Zweck-Mittel-Relation „stimmen“ müsste.

Wie die Gerichte diese schwierigen und heiklen Fragen beantworten, die moralisch wie ethisch in Grenzbereiche führen, dürfte – in der Praxis – mit davon abhängen, wie sich die politische und mediale öffentliche Meinung entwickeln (obwohl dieses rein rechtlich keine Rolle spielen dürfte).

Aktuelle Rechtsprechung

Die Gerichte haben bisher in zwei einschlägigen Fällen entschieden:

Das OVG Berlin-Brandenburg hat mit Beschluss vom 23. Februar 2020, Aktenzeichen 11 S 12.20, festgestellt, dass das Ansammlungsverbot der SARS-CoV2-Eindämmungsverordnung Brandenburg verhältnismäßig sei.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 19. März 2020, Aktenzeichen 1 BvR 661/20, einen Antrag auf einstweilige Anordnung (§ 32 BVerfGG) gegen ein Versammlungsverbot abgelehnt mit der Begründung, der Rechtsweg sei nicht erschöpft (Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde).

Somit hat sich das BVerfG dieses Mal noch mit einer Prozess-Formalie „aus der Affäre ziehen“ können, brauchte sich „zur Sache“ also noch nicht zu äußern.

Fazit und Ausblick

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusagen, dass es hierbei nicht bleiben wird. Angesichts dessen, was für die Akteure auf dem Spiel steht, ist eine Prozessflut mit „Dauerbelagerung des BVerfG“ zu erwarten.

Um das in verträglichen Grenzen zu halten, wird eine -bislang kaum stattfindende- vorbehaltlose (!) wissenschaftliche, politische und öffentliche Diskussion unumgänglich werden.

Der Rechtsstaat steht vor seiner größten Bewährungsprobe. Es bleibt zu hoffen, dass er sie besteht.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht Olaf Möhring, Mönchengladbach/NRW



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