Corona Öffnungen: Merkels 35 verfassungswidrig? Muss der Lockdown sofort beendet werden?

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Es ist das Signal, auf das deutsche Geschäftsinhaber, Einzelhändler und Gastwirte schon so lange warten, und es ist angesichts der von der jüngsten Bund-Länder-Konferenz vom 10.02.2021 zu den Betriebsschließungen vermittelten Perspektivlosigkeit eine kleine Sensation: Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) hat mit Beschluss vom 15.02.2021 klargestellt, es werde die von Bundeskanzlerin Angela Merkel favorisierte Anknüpfung von Öffnungen an eine 7-Tages-Inzidenz von höchstens 35 (Neuinfektionen je 100.000 €) nicht mittragen (Aktenzeichen: 13 MN 44/21), siehe

http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE210000631&psml=bsndprod.psml&max=true

Der Beschluss, der primär den Eilantrag einer Gruppe von Friseuren aus Cloppenburg auf sofortige Betriebsöffnung in einem Normenkontrollverfahren abgewiesen hat (nach den derzeitigen Corona-Verordnungen der Länder dürfen Friseure „erst“, im Hinblick auf die weiterhin geschlossenen übrigen Geschäfte aber: „schon“, ab dem 01.03.2021 wieder öffnen), erscheint unter fundamentalen, für die gesamten (!) Corona Maßnahmen geltenden Gesichtspunkten als „bahnbrechend“ und angesichts der bisher fast uneingeschränkten Regierungs-Loyalität der zuweilen schon als „Corona Justiz“ gebrandmarkten Verwaltungsgerichtsbarkeit als bemerkenswerter „Wendepunkt“.

Die friseurspezifischen Entscheidungsgründe des Beschlusses sollen nachfolgend nicht vertieft werden, da diese Gesichtspunkte (landesweite Regelung angeblich geboten zur Verhinderung von „Friseurtourismus“) wegen der nun beschlossenen zeitnahen Öffnung der Friseurbetriebe von juristisch untergeordnetem Interesse sind.

Sehr ungewöhnlich an dem Beschluss ist indes, dass das OVG Lüneburg in eingehendem, sehr ausführlichem Umfang -für das konkrete Verfahren nicht direkt relevant- im Hinblick auf künftige Verfahren“ klarstellt, den von der Videoschaltkonferenz der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten -derzeit noch nicht einmal bindend beschlossenen- Öffnungs-Inzidenzwert 35 nicht für „legitim“ zu halten, mit anderen Worten: diesen abzulehnen.

Der juristisch interessierte Leser kann dabei den Eindruck gewinnen, das Gericht wolle hierdurch prophylaktisch vorbauen, um "Schlimmstes zu verhindern" (wobei ein Zusatzaspekt auch die Verhinderung eigener Arbeitsüberlastung durch eine ansonsten befürchtete Prozessflut sein mag).

Die Entscheidungsgründe lesen sich dabei wie ein „Hausaufgabenblatt“ für die Bundesregierung, die Landesregierungen und die zuständigen Infektionsschutzbehörden und Institutionen (insbesondere auch das ansonsten durch die Gerichte weitestgehend nie hinterfragte Robert-Koch-Institut/RKI).

Bereits das punktgenaue Handhaben und stoische Beibehalten eines Inzidenz-Grenzwerts von 50 für Lockerungen wird durch das Gericht (im Rahmen des entschiedenen bloßen Eilverfahrens allerdings nur summarisch) infrage gestellt, bemerkt dieses indes letztlich noch absegnend, dass die grundsätzliche Anknüpfung der Maßnahmen an eine 7-Tage-Inzidenz von 50 unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände des Infektionsgeschehens (derzeit noch) als "legitimes Ziel" anzusehen sei, dies aber nicht ohne den Zusatz, dass „vorhandene oder zumutbar zu ermittelnde tatsächliche Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen in dem betroffenen Gebiet zu einer differenzierten Betrachtung und zu unterschiedlichen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zwingen“ könnten.

Zweifel an der Rechtfertigung bereits der 50er-Obergrenze hat das Gericht nicht zuletzt wegen der zwischenzeitlichen personellen Aufstockung in den Gesundheitsämtern und der inzwischen vorhandenen technischen Nachverfolgungsmöglichkeiten (zB SORMAS-System) mit der Folge, dass sich der Grenzwert für Lockerungen bzw. Öffnungen eher nach oberhalb 50 anstelle vom Kanzleramt verfochtener 35 verschöbe.

Das Gericht ist erkennbar bemüht, dem derzeit rigiden Kurs der Regierung „gegenzusteuern“, mahnt quasi eine Evidenzbasierung des gehandhabten Grenzwerts an und führt deshalb insbesondere aus:

„An der sich danach ergebenden tatsächlichen Fähigkeit zur Kontaktnachverfolgung des öffentlichen Gesundheitsdiensts hat sich das weitere Vorgehen des Antragsgegners im Falle der Erreichung des Ziels einer 7-Tage-Inzidenz von 50 maßgeblich zu orientieren." (Hervorhebung durch Verfasser dieses Artikels)

Und weiter:

"Ohne dass es im vorliegenden Fall darauf ankommt, weist der Senat im Hinblick auf künftige Verfahren deshalb bereits jetzt darauf hin, dass die Anknüpfung weiterer Öffnungsschritte an eine 7-Tage-Inzidenz von höchstens 35, wie es der auf der Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder gefasste, aber rechtlich nicht bindende Beschluss vom 10. Februar 2021 unter Ziffer 6. vorsieht, diesen legitimen Pfad verließe." (Hervorhebungen durch Verfasser dieses Artikels)

Und noch deutlicher:

"Der für die Aufhebung von Infektionsschutzmaßnahmen zu erreichende Inzidenzwert ist keine politische Zahl, die im Wege eines Kompromisses bei Verhandlungen zwischen der Exekutive des Bundes und der Länder vereinbart werden kann. Er hat vielmehr maßgeblich an die tatsächliche Fähigkeit der Gesundheitsverwaltung zur Nachverfolgung anzuknüpfen. Nur eine Anknüpfung an tatsächliche Gegebenheiten ist geeignet, die durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie hervorgerufenen erheblichen Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen“. (Hervorhebungen durch Verfasser dieses Artikels)

Nach Auffassung des Verfassers dieses Artikels dürften diese Erwägungen letztlich eine Art Darlegungslast des Staates zur Folge haben, die behaupteten Kontaktverfolgungs-Defizite bei einem Inzidenzwert von mehr als 35 anhand greifbarer Anknüpfungspunkte zu konkretisieren, was für Regierung und Infektionsschutzbehörden mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte, ansonsten bei Darlegungssäumigkeit die Geschäftsöffnungen mit sofortiger Wirkung zuzulassen.

Der juristische „Fingerzeig“ des Niedersächsischen OVG geht insoweit noch weiter, als die derzeit vorgesehene Handhabung einer Lockerungsschwelle 35 „unabhängig davon“ auch gegen die mit Gesetzesänderung vom 18.11.2020 „gerade erst geschaffene Regelung des § 28a Abs. 3 IfSG“ (Infektionsschutzgesetz, Anm. d. Verfassers dieses Artikels) „verstieße“. (Hervorhebungen durch Verfasser dieses Artikels)

Diesen Gesichtspunkt erläutert das Gericht dahingehend, dass das (neue) Gesetz „drei unterschiedliche Inzidenzbereiche (über 50, über 35, unter 35)“ vorsehe, „die zu abgestuften Einschränkungen ermächtigen“. (Hervorhebungen durch Verfasser dieses Artikels)

In für verwaltungsgerichtliche Entscheidungen bemerkenswerter Unmissverständlichkeit stellt das Gericht zu Vorgesagtem klar:

„Dies schließt es aus, die Aufhebung der derzeit angeordneten umfassenden Schutzmaßnahmen mit einem Inzidenzwert von unter 35 zu verbinden. Unterhalb eines Wertes von 35 kommen insbesondere Schutzmaßnahmen in Betracht, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens unterstützen. Damit sind ersichtlich Einschränkungen gemeint, die deutlich unter der Eingriffstiefe flächendeckender Betriebsverbote und -beschränkungen liegen. Diese sind auch nicht durch § 28a Abs. 3 Satz 11 IfSG gerechtfertigt, solange die Nachverfolgbarkeit gewährleistet und damit eine unkontrollierte Verbreitung von COVID-19 nicht zu befürchten ist.“ (Hervorhebungen durch Verfasser dieses Artikels) 

Die -ansonsten im Hinblick auf ihren extrem verkürzten Gesetzgebungsprozess und ihre teilweise hochproblematische inhaltliche Bestimmtheit verfassungsrechtlich kritikwürdige Regelung des § 28a IfSG bildet insoweit nichts anderes als den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab, an dessen Maßstäben das Gericht erkennbar auch die Gesetzesauslegung und die Subsumtion der nach den drei Inzidenz-Stufen jeweils zulässigen Maßnahmen ausgerichtet hat.

Damit erteilt das Gericht allen derzeit kursierenden, ausufernden Kontaktbeschränkungsforderungen wie sie insbesondere die neuen Initiativen „Zero Covid“ oder „No Covid“ mit noch weit unterhalb (!) 35 angesiedelten Grenzwerten stellen, eine klare Absage, was nach Auffassung des Verfassers dieses Artikels schon angesichts der Realitätsferne dieser heeren Zielsetzungen begrüßenswert ist.

Um der weiteren Kernargumentation des Kanzleramts für die Verlängerung des Lockdown zu begegnen, geht das OVG Niedersachsen auf die zunehmend bemühten (britischen, südafrikanischen, brasilianischen etc.) Virus-Mutationen bzw. Virus-Mutanten ein und verweist insoweit- wiederum in faktischer Betonung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebot- darauf, auch eine „möglicherweise wiederum nur vorübergehende Öffnung (…)“ sei „gegenüber einem „dauerhaften Lockdown bis zu einer Impfung weiter Bevölkerungskreise eine mildere Maßnahme“. (Hervorhebungen durch Verfasser dieses Artikels) 

Auch diesem Befund ist nach Auffassung des Verfassers dieses Artikels im Ergebnis zuzustimmen, da -entgegen Sichtweise der Bundesregierung- die Konsequenz aus einem -im Grundsatz sicherlich nicht wünschenswerten- „Auf und Zu“ nicht sein kann, dass auf eine verfassungsrechtlich nach Artikeln 12, 14 GG gebotene sofortige Öffnung der Geschäfte bzw. Betriebe quasi aus äußerster Vorsorge von vornherein verzichtet wird.


Denn dieses würde -schon wegen der für alle Virustypen wesensimmanten Mutationsneigung, aber auch wegen des unvermeidbar spekulativen Charakters der Einschätzung des Mutationsgeschehens- die Gefahr eines uferlosen Langzeit-Lockdown oder gar eine -bei dieser Sichtweise kaum noch begründbar zu beendende- Dauerschleife bedeuten mit kaum auszumalenden fatalen Folgen für die Wirtschaft, die Gesellschaft, letztlich für den gesamten Staat.

Diesen irreversiblen Fehlentwicklungen vorzubeugen war erkennbares Anliegen des Gerichts, und es darf gehofft werden, dass die vorliegende Entscheidung die Regierenden zur Besinnung bringt, andernfalls es naheliegend zu einer Klagewelle -unter Berufung auf diesen OVG-Beschluss- kommen könnte.

Der Schlusspunkt der derzeitigen nur noch als "Corona Wahnsinn" zu bezeichnenden Maßnahmen-Exzesse dürfte mit der vorliegenden Entscheidung gottlob markiert sein.

Dieser Beitrag gibt die persönliche Rechtsauffassung des Autors wieder und kann und will eine individuelle rechtliche Beratung nicht ersetzen.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht Olaf Möhring, Mönchengladbach/NRW



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